Freitag, 14. September 2012

Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab/ Analyse

Es ist relativ schnell ruhig geworden um einen Vorgang, der noch vor einigen Wo- chen tagtäglich Presse und Fernsehen beschäftigt hat. Thilo Sarrazin, SPD-Mitglied, Banker und langjährige Inhaber politischer Ämter hat in einem zirka 450 Seiten umfassenden Pamphlet „aufrütteln und provozieren wollen“ – so heißt es. Sarrazin sei dabei zwar „ein wenig über das Ziel hinaus geschossen“, habe aber doch „Kern- probleme getroffen“. Geheuchelte oder richtige Empörung über einzelne Passagen werden rasch gedeckelt durch die vorherrschende Beteuerung, dass er ja wenigstens Kernprobleme erfasst und angesprochen habe. Klar wurde schnell, wer das Gestammel des Autors nur einmal im Fernsehen gese- hen hat, dass es nicht um eine Einzelperson geht, sondern um eine gezielt von bür- gerlichen Medien – auch denen die scheinbar Sarrazin widersprachen – hochgezoge- ne reaktionäre Kampagne. Das weitgehend erreichte Ziel dabei ist, indiskutable Thesen als diskutable darzustellen, Standards öffentlicher und wissenschaftlicher Debatten nach unten zu verschieben und der Un-Kultur demagogischer Hetze gezielt einen bestimmten Platz in der deutschen Öffentlichkeit zuzuweisen. In der Geschichte der BRD kam es und kommt es immer wieder zu solchen insze- nierten medialen Ereignissen, die unabhängig von einzelnen Personen durchaus ernst genommen werden müssen und eine ernste Herausforderung nicht nur für kommu- nistische Kräfte darstellen. Denn es geht darum zu verhindern, dass selbst minimals- te demokratische Errungenschaften nicht noch weiter zurückgedrängt werden. Auffallend ist, dass auch nach Wochen, trotz einzelner politisch begrüßenswerter Proteste und Aktionen und einzelnen sehr scharfen und deutlichen Protesten (insbesondere vom Zentralrat der Juden in Deutschland), bis heute keine das gesam- te Buch umfassende Widerlegung und fundierte Zurückweisung erschienen ist. Und das bei einem Buch, das mit kaum verhüllten rassistischen Thesen in kürzester Zeit zum größten Bestseller in Deutschland seit 1945 geworden ist. Wenn nachfolgend die Thesen und falschen Argumentationsstrukturen im Mittel- punkt unserer Widerlegung stehen, so ist uns doch bewusst: Sarrazins kommen und gehen, aber der Vormarsch reaktionärer Ideologie in wechselnden Formen kann nur verlangsamt oder gestoppt werden, wenn umfassend und überzeugend auf allen Ebe- nen nachvollziehbar Inhalt und Methode dieses neuen zentralen Angriffs zurückge- schlagen werden kann. Hier wollen wir zuerst thesenartig das gesamte Buch einschätzen, seine reaktionären Ziele und Methoden. In einem zweiten Schritt werden die Thesen dann in weiteren Stellungnahmen von uns detailliert belegt und bewiesen werden. Thesen I. Gegen wen richtet sich dieses rassistische Buch? 1. Dieses Buch richtet sich sehr deutlich an die Mit- tel- und Oberschicht in Deutschland und hat inso- fern als erstes die Hartz IV-Empfänger aufs Korn genommen. „Die da Unten“, das angeblich „faule Pack“, die angeblich „Verwöhnten“ und angeblich zu- nehmend „Degenerierten“ werden als Zielscheibe ins Visier genommen. Deren reales materielles Elend strei- tet Sarrazin rundweg ab. Die „Armutsrisikoschwel- le“ von Hartz IV liege nämlich „in der Nähe der fik- tiven Millionärswelt“, wenn man Hartz IV etwa mit der Lage der Landarbeiterinnen und Landarbeiter in Indien vergleiche (S. 137). Im Vorbeigehen, nicht als Hauptsache wird mit einem Unwort des Jahres die „Altenlast“ (S. 48) in die Diskussion geworfen. Es werden Ängste geschürt, dass die Menschen länger leben, länger Rente kassieren ohne was zu arbeiten, ohne was zu „leisten“ – der Gedanke des „sozialver- täglichen Frühablebens“ wird eher indirekt nahe ge- legt als direkt ausgesprochen. Mit provokativen Beschimpfungen wird die altbe- kannte These „Arbeit macht frei“, also Arbeitszwang und Repressionen aller Art zwecks Kürzung der Zahlung im Staatshaushalt, als eine Art erste Front festgelegt. Dem „faulen Pack“ gelte es Beine zu ma- chen durch die „Absenkung der Grundsicherung“ (S. 178) und durch „Arbeitszwang“, der widrigenfalls durch die Strafe des sofortigen kompletten Einkom- mensentzugs „konsequent durchgesetzt“ (S. 183) werden müsse. Neben dieser eher altbekannten schon von Westerwelle und Co. bedienten Argumentations- schiene ist nun der nächste Schritt, eine weitere darunter stehende Gruppe ins Visier zu nehmen. 2. Noch weit unter den deutschen Hartz IV-Emp- fängern, die skrupellos beschimpft werden, stehen für Sarrazin und Co. weitere Bevölkerungsgruppen. An der Spitze der laut Sarrazin „für Deutschland schäd- lichen Elemente“ stehen pauschal, einzeln und in Kom- bination „Muslime, Araber, Türken, Afrikaner“. Eine „Zuwanderungs- und Integrationsproblematik“ gebe es heute in Deutschland „ausschließlich mit Migranten aus der Türkei, Afrika, Nah- und Mit- telost, die zu mehr als 95 Prozent muslimischen Glaubens sind“ (S. 260). Der Spitzenreiter der an- zugreifenden Gruppe ist zumindest teilweise auswech- selbar ebenso wie die Art der Argumentation gegen diese Gruppe ihren Schwerpunkt ändert. Dabei er- gibt sich im Wesentlichen folgendes Bild: Auf einer ersten Ebene wird die Religion (Islam) als entscheidender Punkt der hetzerischen Argumen- tation in den Vordergrund gestellt. Keine andere Re- ligion trete so „fordernd“ auf, keine andere Immig- ration sei so stark wie die muslimische mit „Inan- spruchnahme des Sozialstaats und Kriminalität verbunden“, bei keiner anderen sei „der Übergang zu Gewalt, Diktatur und Terrorismus so fließend“ (S. 292). In einer zweiten Ebene wird die Region (arabi- scher Raum, Afrika, Türkei) als Folie für hetzeri- sche Verleumdung und pauschalisierende Urteile ver- wendet, wobei die Stigmatisierung eine gewisse Be- liebigkeit hat. Sind’s mal die „Zuwanderer aus dem ehemaligen Jugoslawien, der Türkei und den arabi- schen Ländern“, die Sarrazin als „Kern des Integra- tionsproblems“ (S. 59) ausmacht, ist’s ein andermal die „Zuwanderung aus Afrika sowie Nah- und Mit- telost“, welche „die problematische“ sei (S. 46). Auf einer dritten Ebene schließlich wird die angeb- liche „Rasse“, getarnt als Argumentation mit Ge- nen, Biologismus/Sozialdarwinismus und rassis- tischen Methoden der sogenannten Intelligenz- forschung als pseudowissenschaftliches Fundament für sein ganzes Gedankengebäude gelegt. Als „gene- tisch Minderwertig“ denunziert werden dabei sowohl Angehörigen der „Unterschicht“ als auch die musli- mischen Immigranten. Da sich die angeblich Dum- men „unten“ schneller vermehren würden als die an- geblich Intelligenten „oben“ und da sich vor allem auch die muslimische Minderheit „stärker fortpflanzt als ihre Gastgesellschaft“ (S. 277) bedeute das alles: „Das Deutsche in Deutschland verdünnt sich immer mehr, und das intellektuelle Potential ver- dünnt sich noch schneller.“ (S. 393) Kaum getarnt greift Sarrazin dabei zurück auf die Vorläufer der Rassentheorien der Nazi-Ideolo- gen. So beruft er sich ausdrücklich auf Francis Gal- ton, den rassistischen Erfinder der Eugenik, „dass eine unterschiedliche Fruchtbarkeit verschiede- ner Bevölkerungsgruppen auch dysgenische Wir- kungen haben und die natürliche Selektion quasi auf den Kopf stellen könnte“ (S. 93). Ebenso stützt er sich auf heutige Rassisten und Biologisten. Sarra- zin beruft sich auf Herrnstein und Murray (S. 419), welche in ihrem Buch „The Bell Curve“ 1994 pseu- do-wissenschaftlich zusammengelogen haben, dass Menschen mit dunkler Hautfarbe in den USA des- halb viel stärker von Armut betroffen sind, weil sie angeblich im Durchschnitt genetisch bedingt dümmer seien. Zu den angeblich „wissenschaftlichen Autori- täten“ Sarrazins gehört auch der Gehirnvolumen ver- messende deutsche rassistische „Hochbegabten“- Psychologe D. Rost (S. 93, Fußnote 64). Kein Zu- fall ist auch Sarrazins Berufung auf den sozialdarwi- nistischen „Verhaltensforscher“ Eibl-Eibesfeldt mit seinen namentlich auch von der NPD propagierten biologistischen Thesen über die „Tragekapazität“ eines Landes und die drohende „Landnahme“ durch Einwanderung (S. 257). 3. Für Sarrazin sind muslimische Menschen in Deutschland wertlos, da sie „mehr Kosten als Nut- zen“ verursachen würden (S. 366, siehe auch S. 267). Doch es wäre falsch sich täuschen zu lassen, als gin- ge es nur um bestimmte Gruppen, die zur Zielscheibe erklärt werden. Es gehört zu den in allen Kapiteln ständig wieder auftauchenden Denkfiguren des Ban- kers Sarrazin, dass er jeden Anflug und jede Variante von Humanismus als Firlefanz abtut und als entschei- dendes Kriterium für all seine Überlegungen eine „Kosten-Nutzen“-Rechnung aufstellt als zentralen Angriff auf solche veralteten Ideen wie Menschen- rechte und Menschlichkeit. Menschen werden zu Sachen degradiert. II. Zentrale Methoden der Tarnung und der Demagogie 1. Zunächst einmal außerhalb dieser gesamten Ar- gumentation, bei genauem Hinsehen aber nicht ohne innere Logik, entfalten Sarrazin und Co. ihren geneti- schen Rassismus mit einem scheinheiligen Lob auf die „hochintelligenten Juden“: die Juden würden durch ihre hohe Intelligenz beweisen, dass die Einteilung der Menschen nach Genen angeblich wissenschaftlich begründet, berechtigt und sinnvoll sei. Dieser propa- gandistische Schachzug eines Lobs des „Juden- Gens“ (S. 93 f.) greift unmittelbar politisch nicht die jüdische Bevölkerung an, ja scheint ihr einen Ehren- platz zu sichern. Das ist aber nur ein Mäntelchen, das rasch abgeworfen werden kann. Denn es geht in die- sem Buch Sarrazin und Co. nun wahrlich nicht um ein Loblied auf die jüdische Bevölkerung, sondern um pseudowissenschaftliche Begründung rassistisch- genetischer IQ-Forschung. 2. Um es hier vorweg zu nehmen, was im Einzel- nen gezeigt werden wird: Es geht bei Sarrazin um die Behauptung von kausalen Zusammenhän- gen, wo keine Kausalität bewiesen wird und bewiesen werden kann (etwa zwischen Religion und Intelligenz) und es geht um Vertauschung von Ursache und Wirkung (soziale Lage und Bil- dungsfähigkeit/Bildungsniveau). Es wird sich zei- gen, dass als dritte Komponente in diesem Trio des Lobs der Unlogik die Methode der geziel- ten Auslassung betrieben wird (z. B. Ignoranz gegen die große Bedeutung des arabischen Raums für die Weltkultur). Bei den einzelnen Argumenta- tionsschritten gilt es jeweils auf diese drei Punkte hinzuweisen. 3. Der Überblick über diese neue Aggression der Reaktion wäre nicht vollständig, wenn nicht das her- vorstechende Merkmal, das Spiel mit Zahlen und Statistiken benannt und von uns ins Visier genom- men wird. Gerade an diesem Punkt wird es darum gehen, nicht in aufgestellte Fallen zu laufen, nicht De- taildiskussionen aufzunehmen und sich darin zu ver- wickeln sondern eher strukturell und exemplarisch die Frage der Relevanz oder Irrelevanz der von ihm im Überfluss angestellten statistischen Berechnungen zu vertiefen. 4. Indirekt liest sich das Buch von Sarrazin wie ein Lehrbuch von Demagogie, Halbwahrhei- ten und Fälschungen, kaum eine der bewährten Methoden wird ausgelassen. (Insofern macht es Sinn am Ende der Analyse auch eine Liste der ent- larvten üblen Methoden aufzustellen – von A wie Autoritäten als Schutzschild bis Z wie Zitatenfäl- schung.) So tut Sarrazin gar so, als ginge es ihm angeblich um Frauenemanzipation. Sarrazin, der selbst behauptet, Männer und Frauen hätten ge- netisch bedingt „unterschiedliche Schwerpunk- te in ihrer Intelligenz“ und Männer einen Vor- sprung beim „logischen Schlussfolgern“ (S. 215), spielt sich zugleich als scheinbarer Ver- teidiger der Interessen und Rechte muslimischer Frauen auf. Diese angeblich genetisch „minder- wertigen“ Frauen will er in Wirklichkeit möglichst rasch gar nicht in Deutschland haben. III. Die Haltung zur Nazi-Zeit und der Plan für die Zukunft Deutschlands 1. Sarrazin versteht sich als Vordenker für die Zu- kunft Deutschlands. Sarrazin zeichnet sozusagen aus „Liebe zu seinem Land“ ein „Horror-Bild“ der Zu- kunft. „Was wird denn in Deutschland gesche- hen, wenn das deutsche Volk still dahinscheidet? Wird man hier dann mehrheitlich türkisch spre- chen oder arabisch ...“ (S. 346). Er beschwört zugleich das „westliche Abendland“, das durch die muslimische Immigration unterzugehen drohe (S. 266). Damit werden – wie bei jedem Demago- gen – Ängste geschürt, damit „Deutschland erwa- che“ und nicht blind ins Unglück renne. In dieser Pose ist nicht nur das im Goebbelsschen Stil gehaltene, undiskutierbare 9. Kapitel „Ein Traum und ein Alp- traum“ geschrieben. In diesem Stil ist das gesamte Buch verfasst und unterlegt. 2. Dabei hat jeder „Vordenker“ in Deutschland ein Problem, das auch Sarrazin anpackt. Ein Problem, das jeder deutsche Nationalist – ob er Rassist ist oder nicht – ebenfalls hat: die Nazi-Zeit. Vor seinem Zu- kunfts- und Alptraum betreibt Sarrazin – in der Öf- fentlichkeit weitgehend nicht thematisiert – handfes- ten Geschichtsrevisionismus, Bagatellisierung der NS-Zeit in Sprache und Inhalt, vor allem aber Entsorgung Deutschlands von diesem unangenehmen Thema, um frisch und fromm alle Kernklischees des deutschen Nationalismus (in der heutigen Atmos- phäre kein großes Kunststück) zu bedienen – bis hin zu dem Begriff der „Deutschenfeindlichkeit“ (S. 298), der gezielten Ablehnung nationaler Min- derheiten, bis hin zu einem regelrechten Germanisie- rungsprogramm („Aber wir wollen keine nationa- len Minderheiten“, S. 326). 3. Das politische Programm des SPD-Mannes Sar- razin ist parteiübergreifend und kann so zusammen- gefasst werden: Gezielt gesteuerte Aufzucht des IQs in Deutschland durch positive und negative Eu- genik, durch Kindervermehrung in der „intelligenten Oberschicht“ einerseits und Kinderverminderung bei Hartz IV andererseits. Sarrazin will einen gesellschaft- lichen und politischen Konsens darüber, „dass es dringend, zwingend und alternativlos ist, die Ge- burtenrate in Deutschland erheblich zu steigern und gleichzeitig die Anteile der Mittel- und Ober- schicht an den Geburten deutlich zu erhöhen.“ (S. 373) Dies steht im Zusammenhang mit der ural- ten reaktionären These, dass überhaupt einer „Über- bevölkerung“ gezielt entgegengewirkt werden muss. So sei es die „einzig sinnvolle Handlungsperspek- tive“, den Zuzug der „genetisch Minderwertigen“, aus arabischen Ländern, Afrika, der Türkei, ja Mus- limen überhaupt „weitgehend zu unterbinden“ (S. 372). Wenn man so will, ist dies – neben all den anderen Provokationen – die entscheidende eugenische Pro- grammatik bei Sarrazin.  In der genaueren Analyse wird es darauf an- kommen, den realen Zusammenhang der von Sarrazin ausgebreiteten reaktionären, nationa- listischen und rassistischen Thesen mit der Ide- ologie und Politik des deutschen Staats, mit den aktuellen und langfristigen Zielen des deutschen Imperialismus nicht auszublenden, sondern so genau wie möglich herauszuarbeiten – gerade auch vor dem Hintergrund der geschichtlichen Erfahrungen des Nazi-Faschismus. Warum der Rassist Sarrazin gezielt auf Hartz-IV- Betroffene losgeht Sarrazins Programm: „Konsequent durchgesetzter Arbeitszwang“ Die Spatzen pfeifen es von den Dächern, daß Sarrazin durch schamlose Redensarten provoziert. Wie Marie-Antoinette, die Frau von Ludwig XVI, die im 18. Jahrhun- dert angesichts der Forderung der Hungernden nach Brot erklärt haben soll: „Wenn sie kein Brot haben, sollen sie doch Kuchen essen!“ (nebenbei: sie und ihr Gemahl wurden während der Französischen Revolution für ihre Verbrechen zur Rechen- schaft gezogen), so provoziert Sarrazin mit Sprüchen und Verallgemeinerungen wie „Wenn den Hartz-IV-Betroffenen das Heizgeld nicht reicht, sollen sie eben einen dickeren Pullover anziehen.“ oder: „Wenn sie nicht soviel rauchen und saufen wür- den, hätten sie auch keine finanziellen Probleme“ usw. Unserer Meinung nach ist es von ganz besonderer Wichtigkeit, solche dummen und arroganten Provokationen zu brandmarken, aber sich auch nicht davon ablenken zu lassen. Denn es geht dem Rassisten Sarrazin um ein im Einzelnen doch schwer zu durchschauendes Ränkespiel: Einerseits prügelt er auf die „biologisch-genetisch ver- dorbene Unterschicht“ in Deutschland ein, um dann gleichzeitig das Angebot zu entfalten, noch stärker auf aus seiner Sicht „nicht-deutsche“ Gruppierungen einzu- schlagen. Es sei an dieser Stelle nochmals betont, auch wenn wir uns wiederholen: Bei der „Sarrazin-Debatte“ geht es nicht um Sarrazin als Einzelperson. Es geht vielmehr um den Vormarsch einer reaktionären Ideologie, die von den bürgerlichen Medien in Deutschland medial inszeniert und flankiert wird und die im engen Zusammenhang mit den aktuellen und langfristigen Zielen des deutschen Imperialismus steht. 1. Die nachfolgende Analyse von Sarrazins Aufforderung zum „Gürtel-enger-schnallen“ und zur Zwangsarbeit von Hartz-IV-Betroffenen hat eine eigenständige Bedeutung. Diese Angriffsfront muß eigenständig analy- siert werden, auch wenn – oder besser: gerade weil – sich der hervorstechende demagogische Teil seines Buches mit rassistischen Ausfällen in verschiedenen Varianten gegen „Nicht-Deut- sche“, gegen Menschen aus bestimmten Regi- onen (Türkei, arabische Region, Afrika) mit nicht-christlicher Religion (Islam) richtet. 2. Es gilt aufzuzeigen, daß und wie Sarrazin und Co. gegen Hartz-IV-Betroffene hetzt, weil es wichtig ist, auch diesem Teil der Arbeiter- klasse deutlich vor Augen zu führen, daß die ras- sistischen, nationalistischen Kampagnen durchaus auch an jene gerichtet sind, die für po- gromartige Auseinandersetzungen gewonnen werden sollen. Es wäre grob fahrlässig und unverantwortlich, wenn im Kampf gegen Pogromhetzer à la Sar- razin auf gewerkschaftlicher, demokratischer Ebene darauf verzichtet würde, dieser Kampa- gne gegen Hartz-IV-Betroffene etwas entgegen- zusetzen. Entscheidend wird dabei sein, Sar- razins Feldzug gegen Hartz-IV-Betroffene als wesentlichen Punkt, aber nicht als den zentralen Punkt zurückzuweisen. 3. Es gibt einen hochinteressanten und wich- tigen logischen Zusammenhang zwischen der Einteilung der Menschen in „höherwerti- ge und minderwertige Rassen“ einerseits und einer allgemeinen genetischen Eintei- lung der Menschen überhaupt in „reiche Die Grundposition von Sarrazin und Co. ist so einfach und wirksam wie falsch: Eigentlich sei alles, so wie es ist, weitgehend „logisch“. Die „klügeren Völker“ hätten „logischerweise“ die „Dümmeren“ unterdrückt und kolonialisiert. Und in Deutschland seien die Oberen diejeni- gen, die Geld und Macht haben, ja nicht zufäl- lig oben, sondern eben deshalb, weil sie angeb- lich schlauer, cleverer, besser seien. Das hat al- les seine gute Ordnung bei Sarrazin und Co. Unsere Kernthese ist, daß hier die Widerlegung anfangen muß. Diese zutiefst reaktionäre Grundauffassung von Geschichte und Gesell- schaft muß angegangen werden. Sarrazin lenkt nun die Aufmerksamkeit auf sein Gefahrenszenario, weil durch eine Reihe von Umständen und Maßnahmen die angeblich „Dummen“ zu Sarrazins Bedauern weltweit und in Deutschland die Mehrheit bilden und sich auch noch weiter vermehren. Diesem Spuk müsse endlich einmal ein Ende bereitet wer- den. Dafür wird nun zunächst gegen Hartz-IV-Be- troffene, gegen „die Unterschicht“ ein Pro- gramm der „Gefahrenabwehr“ entwickelt. 4. Bevor wir auf dieses Programm im einzel- nen eingehen, sei noch einmal in aller Klarheit festgehalten: Biologismus, Genetik und Rassis- mus bei Sarrazin und Co. sind ideologische Waf- fen nicht nur gegen die verschiedensten Feinde der „oberen 10.000“ in Deutschland. Es ist auch ein Programm der Mobilma- chung, ein Programm des „Deutschland er- wache!“ im Interesse der „oberen 10.000“, die sich gegen den Ansturm der Mehrheit rüsten müssen, damit der Plan von der Weltmacht Deutschland nicht an der Zerrissenheit und Un- entschlossenheit der „oberen 10.000“ selbst zu Grunde geht. Dieses sozusagen positive Programm ist es auch, wofür Sarrazin vehementes Lob selbst von den Kritikern erhält, denen Sarrazins Paralle- len zur Nazi-Ideologie in manchen Details eher peinlich sind. Es wird also darauf ankommen, in weiten Teilen unserer Analyse neben der Ent- larvung und Bekämpfung der Attacken gegen die sogenannten „Gegner und Feinde Deutsch- lands, die Deutschland zersetzen und kaputtma- chen“, das Augenmerk auf die deutsche Her- renmenschenideologie der Aufzucht und „Auf- nordung“ der „oberen 10.000“ und darüber hi- naus zu richten. 5. Nun zu Sarrazins reaktionären Attacken ge- gen die Hartz-IV-Betroffenen. Ein Grundmuster zieht sich dabei durch Sar- razins Lügenargumentation: Ursache und Wir- kung werden vertauscht nach der alten Ma- nier der herrschenden Klasse, Menschen in Elend und Dreck zu stoßen, um sich dann darüber lustig zu machen, daß sie dreckig wer- den und verelenden. Aber auch hier droht eine Falle: Es ist im Ein- zelnen schwierig festzumachen, inwieweit hin- ter Tatsachenfeststellungen Beleidigungen ste- cken, selbst wenn die Tatsachen richtig sind, und inwieweit Tatsachen direkt verfälscht werden, um zu beleidigen und zu diskriminieren. 6. Ohne uns in Nebensächlichkeiten zu ver- lieren oder uns in der Fülle von Sarrazins Pro- vokationen zu verlieren, ergibt sich unserer Meinung nach folgendes Bild: Der alles entscheidende und überragende Punkt ist Sarrazins brutale Forderung nach konsequentem Arbeitszwang für Hartz-IV- Betroffene. Das ist das Ziel und zentrale An- liegen Sarazins. Alle anderen Punkte, die Sar- razin gegen Hartz-IV-Betroffene vorbringt, dienen im Grunde diesem Ziel. Um sein Programm zu begründen, führt Sar- razin drei wesentliche Lügenargumente ins Feld: Lügenargument Nr. 1: Die Millionen „Carola Goetzes“ seien die Ursache der Erwerbslosigkeit Sarrazin berichtet von einer Erwerbslosen na- mens Carola Goetze, die bereits sechs Job-An- gebote erhalten hatte und frecherweise keines der Angebote annehmen „wollte“, weil sie „ar- beitsunwillig“ sei. Er schlußfolgert: „Es gibt Millionen Carola Goetzes im Sys- tem“ (S. 176) Will heißen: Die Erwerbslosigkeit in Deutsch- land hat angeblich nichts mit der Struktur der Gesellschaft oder gar mit Kapitalismus zu tun. Ursache sei vielmehr die Mentalität der „Fau- len“, der „Arbeitsunwillgen“. Sarrazins millio- nenfach widerlegte Grundthese lautet: Wer ar- beiten will, findet Arbeit. Finanzielle Armut von Hartz-IV-Betroffenen gebe es nicht, der Hartz-IV-Regelsatz reiche zum Leben durchaus aus (S. 115) – was Sarrazin im übrigen im „Selbstversuch“ bewiesen habe – da bestehe sogar noch Kürzungspotential. Vielmehr attestiert er den Hartz-IV-Betrof- fenen „geistige und moralische Armut“ (S. 123) und übergießt sie mit Beschimpfungen (wie etwa, sie würden ihre Kinder vernachläs- sigen, sie würden trinken und saufen, anstatt ihre Kinder anständig zu ernähren usw. usf.). Er fordert: „Bekämpft werden muß dagegen die ‘Ar- mut im Geiste‘, das heißt jene Kombination aus Bildungsferne, Sozialisationsdefiziten sowie Mangel an Gestaltungsehrgeiz und Lebensenergie, der große Teile der Unter- schicht in Deutschland prägt.“ (S. 132) Statt eines Armutsproblems gebe es, so Sar- razin, in Deutschland ein „Verhaltenspro- blem“ (S. 119): Würden sich die Betroffenen entsprechend „verhalten“, wären sie auch nicht arm. Lügenargument Nr. 2: Hartz IV und die Slums von Bombay Als zweites führt Sarrazin die Allerweltsbe- hauptung ins Feld, daß es „den Leuten“ hier in Deutschland noch viel zu gut gehe. Dieses Argument wird – teils mit faulen Zah- lenspielen (angeblich 322 Euro pro Kind mehr), teils mit einer gut abgestimmten Palette von Be- schimpfungen und Pauschalbehauptungen – va- riiert. Sarrazin untermauert seine Behauptung, daß es den Leuten viel zu gut gehe, mit dem Ver- weis auf die Lebensbedingungen in den Slums von Bombay: „Aus der Sicht der wirklich Armen in der Welt liegt die deutsche Armutsrisikoschwelle in der Nähe der fiktiven Millionärswelt und weit ent- fernt von ihrer Wirklichkeit in den Slums von Bombay oder Jakarta“ (S. 137). Hartz-IV sei eine „Mindestabsicherung, ... die im Weltmaßstab Reichtum“ bedeute (S. 148). Jede Arbeiterin, jeder Arbeiter kennt diesen Trick nur zu gut, wenn es um Löhne oder Ar- beitszeit geht. Sofort heben die Kapitalisten den Finger und verweisen auf die Lage von Arbei- terinnen und Arbeitern in anderen Ländern, die noch weniger verdienen und noch länger arbei- ten müssen. Die Tatsache, daß etwa ein armer Mensch in Indien mit dem Hartz-IV-Satz aus Deutschland möglicherweise als reich gelten würde, ändert nichts an der Tatsache, daß eben dieser Satz in Deutschland kaum genug zum Leben reicht. Lügenargument Nr. 3: Kinderkriegen als „lohnendes Geschäft“ Das dritte Lügenargument, das sich hier noch gegen die Hartz-IV-Betroffenen richtet, aber im Grunde schon überleitet zu seinem Biologismus und Rassismus, ist die Behauptung, Kinderkrie- gen sei für Hartz-IV-Betroffene ein „lohnendes Geschäft“. Das Kindergeld, das Hartz-IV-Be- troffene erhalten, sei „ein maßgeblicher Grund dafür, daß die Unterschicht deutlich mehr Kinder bekommt als die mittlere und obere Schicht“ (S. 175) Deshalb müssten insbesondere in diesem Be- reich Zuwendungen für Unterschichts-Kinder gekürzt und gestrichen werden. „Nicht Kinder produzieren Armut, sondern Transferempfänger produzieren Kinder“ (S. 149) und „Es liegt eine gewisse ökonomische Logik darin, daß der Anteil der Kinder aus Haushalten von Transferempfängern etwa dop- pelt so hoch ist wie der Anteil der Transfer- empfänger selbst“ (S. 149). Ein Vorschlag, den die Repräsentanten des deutschen Imperialismus bereits begeistert auf- genommen haben und mit der Streichung des Elterngeldes für Hartz-IV-Betroffenen in die Tat umsetzen möchten. Stellen wir zunächst einmal klar: Erwerbslo- sigkeit ist ein gesamtgesellschaftliches Phäno- men - die Folge zunehmender Überproduktion (Überproduktion aus der Sicht der Kapitalisten sind nicht verkaufbare Waren). Die Ursache für diese Überproduktion ist eine im großen Maß- stab nicht geplante Produktion und eine von Pro- fitstreben – es geht um Maximalprofit heute – geprägten Gesellschaftordnung, die Kapitalis- mus genannt wird. Erwerbslosigkeit selbst und drohende Er- werbslosigkeit sind für den Kapitalismus ein hervorragendes Instrumentarium, um den Lohn der Noch-Beschäftigten zu drücken und um, wie es Marx nannte, eine industrielle Reservearmee zu schaffen, die, wenn es erforderlich ist, so- fortigen Zugriff auf Lohnabhängige bietet. Nachdem dies klargestellt ist, kann Sarrazin und Co. zusätzlich (und insofern immanent) entgegengehalten werden, daß rund 85 % der Hartz-IV-Betroffenen überhaupt nicht die Chan- ce und Möglichkeit haben, sich eine gewisse Zeit dem Arbeitsstreß zu entziehen, da sie von mor- gens bis abends in verschiedenen Beschäftigun- gen eingebunden sind. - Von den ca. 4,9 Mio. Hartz-IV-Betroffenen sind 29,3 % (darunter etwa sogenannte „Aufstocker“ usw.) erwerbstätig. Ihr Ein- kommen ist schlichtweg so niedrig, daß sie sogenannte ergänzende Leistungen erhal- ten, um ihr Leben trotz Arbeit fristen zu kön- nen. - Weitere 10,2 % sind in einer Ausbildung - 28,8 % – fast ausschließlich Frauen – kön- und können von ihrem Ausbildungsentgelt nen wegen der Betreuung ihrer Kinder kei- nicht leben. ner Erwerbstätigkeit nachgehen, - 6,9 % pflegen ihre kranken oder behinder- ten Angehörigen und - 10,1 % absolvieren Umschulungsmaßnah- men (Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, 58. Jahrgang, Sondernummer 2, S. 23 und IAB- Kurzbericht 15/2010, S. 3.) D. h. alles, was Sarrazin aus dem Arsenal sei- ner Beschimpfungen vorbringt, trifft also schon rein formal überhaupt nur die restlichen 15 % – obwohl es sich auch in Bezug auf diese 15 % um Hetze, Lügen und Halbwahrheiten handelt. Sarrazins Programm: „Arbeitszwang konsequent durchsetzen“ Es war von vornehrein klar, daß Sarrazins Lü- genargumente darauf ausgerichtet sind, sein grundlegendes Anliegen, die konsequente Durchsetzung von Arbeitszwang, plausibel er- scheinen zu lassen. Im Grunde geht es um Herrschaftssicherung. Erwerbslosigkeit – so die Erfahrung der Kapi- talisten – ist immer auch eine Quelle möglicher Unruhen und Kämpfe, militanter Erhebungen und Aufstände. Wer nicht spurt, soll auch kein Geld erhalten. Militärischer Gehorsam ist das Ziel. Keiner soll es wagen aufzumucken und die Pläne der „obe- ren 10.000“ zu stören oder zu durchkreuzen, denn Deutschland als Weltmacht braucht ein ru- higes Hinterland für die Umsetzung seiner im- perialistischen Herrschaftspläne. Hier muß strategisch daran gearbeitet werden – und das tut Sarrazin –, um diese Massen zu erfassen, zu kontrollieren und zu drillen, was er auch relativ offen ausspricht: „Es kann nicht ungerecht sein, alle er- werbsfähigen Empfänger von Grundsicherung zu einer Gegenleistung zu verpflichten. Dabei kann zunächst dahingestelllt bleiben, wie pro- duktiv diese Gegenleistung ist und ob sie überhaupt produktiv ist. Entscheidend ist, daß sie ausnahmslos eingefordert wird und die Anforderungen in Bezug auf Pünktlichkeit, Disziplin und Arbeitsbereitschaft dem regulä- ren Arbeitsleben möglichst nahe kommen (...) All diese wohltätigen Wirkungen werden je- doch nur eintreten, wenn der Arbeitszwang konsequent durchgesetzt wird, wobei die wirk- samste Sanktion stets der sofortige Transfer- entzug ist.“ (S. 182/183) Deshalb fordert Sarrazin, die Leistungen von Hartz-IV-Betroffenen drastisch zu kürzen: „Der fraglos größte Anreiz zur Arbeits- aufnahme läge in einer Absenkung der Grundsicherung.“ (S. 178) Kürzungen um 30 % hält er für richtig. Aber an seinen Ausführungen kann man schon erken- nen, daß das erst der Anfang ist. Er erwähnt Vor- schläge, die den Regelsatz ganz streichen wol- len und nur noch die Kosten für Heizung und Unterkunft vorsehen. Demagogisch verweist er darauf, wie „milde“ dagegen sein Kürzungsvor- schlag von 30 % sei.(S. 178) Fakt ist: Allein 2009 wurden nach offiziellen Zahlen der Bundesagentur für Arbeit insgesamt 732.648 Sanktionen gegen Hartz-IV-Betroffe- ne verhängt. Solche Sanktionen bedeuten Kür- zungen von Geldern bis hin zum vollständigen Entzug, je nachdem, was sich jemand angeb- lich hat zu schulden kommen lassen.(Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, 58. Jahrgang, Sondernummer 2, Arbeitsmarkt 2009, S. 109). Es wurde ein ausgeklügeltes Bespitze- lungssystem installiert mit „Zeugenbefragun- gen“, „Hausbesuchen“ bis hin zur Observation, um angeblichen Leistungsmißbrauch aufzude- cken. Wer nicht auf große (und richtige) und abge- nutzt scheinende Begriffe verzichten will, kann und sollte hier durchaus den Zusammenhang zu einer Faschisierung und Militarisierung her- stellen. Und hier zeigt sich auch, daß das, was als Weitblick und Vision von Sarrazin bei sei- nen Bewunderern und Scheinkritikern her- vorgehoben wird, in der Tat etwas mit vor- beugender Revoltenbekämpfung zu tun hat. Denn Deutschland droht Gefahr, Gefahr von unten, Gefahr selbst von der deutschen Unterschicht, von Hartz-IV-Betroffenen, die mit Kürzungen von Geldern, Repression und Arbeitszwang geknebelt und „diszipli- niert“ werden müssen. Und die nur dann die Fesseln gelockert bekommen, wenn man sie gegen die ganz unten, gegen Menschen aus anderen Regionen aufhetzen und einsetzen will. Sarrazins anti-islamische und anti-muslimische Hetze in der Pose des deutschen Herrenmenschen Zum Hauptangriffsziel hat Sarrazin diejenigen auserkoren, die in seiner Hierarchie noch unter den deutschen Hartz-IV-Empfängern stehen: Deutschlands eigentliches Pro- blem seien „die Ausländer“, das „Unterschichtsproblem“ sei ein „Migrantenproblem“. „Deutschland schaden“ laut Sarrazin vor allem Einwanderer aus arabischen Ländern. Er macht muslimische Migrantinnen und Migranten verächtlich und beschimpft sie aufs Übelste und stellt für sie in der Pose des deutschen Herrenmenschen ein Programm aus Arbeitszwang, Zwangseindeutschung und Zuwanderungsstop auf. Jedoch muß bewußt sein: Bei der Sarrazin-Debatte geht es nicht um Sarrazin als Ein- zelperson. Vielmehr geht es um den Vormarsch einer reaktionären Ideologie, die von bürgerlichen Medien in Deutschland inszeniert und flankiert wird und die im engen Zusammenhang mit den aktuellen und langfristigen Zielen des deutschen Imperialis- mus steht. Sarrazins anti-islamische und anti-muslimische Hetze Sarrazin hat in einem Dreiklang von Religion (Is- lam), Region (arabische Länder) und „Rasse“ musli- mische Migrantinnen und Migranten als Minderheit zu seiner Hauptzielscheibe auserkoren: „Die Zuwanderer aus dem ehemaligen Jugos- lawien, der Türkei und den arabischen Län- dern bilden den Kern des Integrationspro- blems.“ (S. 59). Im Tonfall des deutschen Herrenmenschen stellt Sarrazin zunächst ein Herkunfts-Ranking für Aus- länder auf (Osteuropäer, so Sarrazin, seien etwa „sehr sprachbegabt“, Asiaten „wirtschaftlich leis- tungsfähig“, S. 59) und beschimpft Muslime dann auf übelste Weise: Er bezeichnet muslimische Frau- en verächtlich als „Importbräute“ (S. 289) und behauptet, Muslime seien kriminell und würden „von Hartz IV leben“ (S. 292), seien Nichtsnutze, die kei- nen „wirtschaftlichen Mehrwehrt erbringen“ (S. 267), würden Deutschland sozusagen schon mit ihrer Geburt schaden durch „enorme Fruchtbar- keit“ (S. 267) usw. Schließlich bringt er seine An- griffspunkte gegen Islam und Muslime folgendermaßen auf den Punkt: „Keine andere Religion in Europa tritt so for- dernd auf. Keine andere Immigration ist so stark wie die muslimische mit Inanspruchnahme des So- zialstaats und der Kriminalität verbunden. Keine Gruppe betont in der Öffentlichkeit so sehr ihre Andersartigkeit, insbesondere durch die Kleidung der Frauen. Bei keiner anderen Religion ist der Übergang zu Gewalt, Diktatur und Terrorismus so fließend.“ (S. 292) Lassen wir einmal beiseite, daß in Deutschland längst nicht alle Muslime Einwanderer sind, daß es hier Muslime mit und ohne deutschen Paß gibt, und daß es unter Migrantinnen und Migranten aus Herkunftsländern „mit vorwiegend muslimischem Glauben“ auch jüdische, christliche und andere Gläubige oder Atheisten gibt, die Sarrazin in seinem Buch allesamt unter den Tisch fallen läßt. Schauen wir uns im Folgenden seine provokativen Lügenbe- hauptung Satz für Satz genau an. Lügenhetze Nr. 1: Keine Religion sei so „fordernd“ wie der Islam „Keine andere Religion in Europa tritt so for- dernd auf“ erklärt Sarrazin zum Islam als Religi- on und hier wird bereits sichtbar, daß sein Koordi- natensystem völlig verrutscht ist: Gibt es denn in Deutschland „etwas Fordernderes“ als die „christ- lich-abendländische Leitkultur“? Wie „fordernd“ sie in Deutschland auftritt und den Alltag dominiert, wird schnell ersichtlich, wenn wir uns vor Augen halten, wie die christlichen Kreuz-Träger aufjaulen und behaupten, „die Zeit sei noch nicht reif für die Gleichberechtigung des Islam in Deutschland“, sobald Muslime ihr Recht auf Religionsfreiheit in Anspruch nehmen wollen. Halten wir uns vor Augen, daß beispielsweise „unsere“ Zeit- rechnung mit dem angeblichen Geburtstag von Jesus beginnt, daß „neutestamentarische“ Redewendungen wie „ein Kreuz auf sich nehmen“ zum allgemeinen Sprachgebrauch gehören, Kreuze und Marienbilder in Kindergärten, Schulen und Krankenhäusern ganz selbstverständlich hängen, ganz zu schweigen vom sonntäglichen „Ruhetag“ und den christlichen Feier- tagen bis hin zu Bundeswehrkasernen mit ihren Mili- tärpfarrern, die direkt „vor Ort“ die Kriegseinsätze des deutschen Imperialismus betreuen und die „Mo- ral“ der Bundeswehrsoldaten heben. Diese Indoktrinierung mit den Werten der „christlich-abendländischen Kultur“ durch- dringt den ganzen Alltag in Deutschland. Die „An- dersgläubigen“ haben sich gefälligst den christli- chen Herrenmenschen anzupassen. Wenn sie das nicht tun, an ihrem Glauben festhalten, die einfachs- ten Grundsätze der Gleichbehandlung der Religio- nen einfordern, gelten sie als „fordernd“, werden verachtet, gegängelt und schikaniert. Wenn dann eine muslimische Frau auch an ihrer Arbeitsstelle ein Kopftuch tragen möchte, empören sich die christlichen-deutschen Frauenfreunde und wenn die Frau etwa Lehrerin ist, wird sogar mit Be- rufsverbot gedroht. Wenn muslimische Gläubige – wie es für Christen und ihre Kirchen selbstverständlich ist – eine Moschee bauen möchten, die vielleicht noch höher ist als die christliche Kirche im Ort? Das ist dann unerträglich für die deutschen Herrenmenschen. Ein Muezzin, der in Deutschland laut zum islamischen Freitagsgebet ruft? Das schmerzt das Ohr der deut- schen Christenheit, die das penetrante sonntägliche Kirchengeläute überhört. Lügenhetze Nr. 2: „Stärkste Inanspruchnahme des Sozialstaats und der Kriminalität“ durch muslimische Migrantinnen und Migranten „Keine andere Immigration ist so stark wie die muslimische mit Inanspruchnahme des Sozial- staats und der Kriminalität verbunden.“ Nun wechselt Sarrazin die Ebene und geht vom Islam zum Angriff auf muslimische Migrantinnen und Migranten über. Ob es angebliche religiöse, kul- turelle oder rassistische Merkmale sind, die mus- limische Migranten in den Augen der deutschen Herrenmenschen kennzeichnen, ändert sich von Fall zu Fall. Mal richtet sich ihre Hetze gegen den Islam als Religion, mal gegen Gläubige einer als minder- wertig oder rückschrittlich dargestellten Religion, mal gegen Muslime als kulturell fremdartig, mal gegen Muslime als rassistisch abgrenzbare Gruppierung, mal gegen Muslime als soziale Unterschicht, mal gegen Muslime als „Terroristen“. Diese Formen der Dis- kriminierung und Verhetzung stimmen jedoch darin überein: Muslime werden als Minderheit in Deutsch- land vermeintliche kollektive negative wesenhafte Ei- genschaften zugeschrieben. Vollkommen infam ist Sarrazins Vorwurf, muslimi- sche Migranten seien besonders „kriminell“ und wür- den besonders „von Hartz IV leben“. Damit soll wohl angedeutet werden soll, daß sie angeblich faul und deshalb erwerbslos seien. Infam, weil es eine Tatsa- che ist, daß Migrantinnen und Migranten die schlech- testen Jobs haben und als erste entlassen werden. So können sie es den deutschen Herrenmenschen nicht recht machen: Wenn sie Arbeit haben wird ge- tönt, daß „Ausländer den Deutschen die Arbeit weg- nehmen“. Wenn sie erwerbslos sind wird getönt, sie wären faul und „liegen den Deutschen auf der Ta- sche.“ Sarrazins Zahlenakrobatik, Pauschalisierungen und auch einfach dreiste Lügen, um zu „belegen“, daß Muslime kriminell seien und von Hartz-IV leben würden, ist erfreulicherweise von einigen bürgerlichen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sehr de- tailreich widerlegt worden (etwa Naika Foroutan in ihrer Untersuchung „Sarrazins Thesen auf dem Prüf- stand. Ein empirischer Gegenentwurf zu Thilo Sar- razins Thesen zu Muslimen in Deutschland“ , De- zember 2010; siehe etwa S. 25 zu Sarrazins Behaup- tung 30 % der Muslime hätten keinen Schulabschluß oder seine Behauptung ohne jeglichen Beleg, daß „in Berlin 20 Prozent aller Gewalttaten von nur 1.000 türkischen und arabischen Tätern begangen“ wor- den seien). So richtig es ist, nachzuweisen, daß und wie Sar- razin lügt, daß ihm nachgewiesen wird, wo er schein- wissenschaftlich agiert und manipuliert, so wichtig ist es aber gleichzeitig klarzustellen, daß wir uns nicht mit Sarrazin und Co. auf eine Diskussion einlassen, ob muslimische Migranten nun „bildungsunwilliger“, „krimineller“, „gewalttätiger“ usw. seien als Deutsche oder gar als andere Einwanderergruppen. Wir müs- sen klarstellen, daß uns diese Zahlen nicht pri- mär interessieren, denn sie können sogar ab- lenken und sie ändern rein gar nichts am prinzi- piellen banalen demokratischen Recht einer Minderheit, ihren Glauben oder ihre Kultur auszuüben, und an ihrem Recht, nicht beleidigt zu werden. Die Journalistin Aylin Selcuk bringt das sehr präg- nant auf den Punkt: „,Sie sind ein Hurensohn!‘ Man stelle sich vor, ich würde zum Beispiel bei einer Redaktionssit- zung des Spiegel einen Redakteur derart anspre- chen. Wie würden zu dieser Äußerung am nächs- ten Tag die Schlagzeilen lauten? Vielleicht so: ‚Tür- kin beleidigt Spiegel-Redakteur‘, oder auch: ‚Mus- limin greift Menschenwürde von Journalisten an.‘ Würde irgend jemand auch nur auf die Idee kom- men, darüber nachzudenken, ob dieser Redak- teur wirklich Sohn einer Hure sein könnte? Wür- de man Statistiken darüber erheben, mit welcher Wahrscheinlichkeit es zutreffen könnte, daß ge- rade dieser Redakteur Sohn einer Hure ist? Wür- de man wild über die Definition des Begriffs Hure recherchieren? Wohl kaum. Da stelle ich mir nun die Frage: Wieso überlegt man bei den Thesen des Herrn Sarrazin als erstes, ob er recht hat?“ (Aylin Selcuk, „Menschenwürde muß man nicht verdienen“, in: Sezgin, Hilal, „Manifest der Vielen. Deutschland erfindet sich neu“, Berlin 2011, S. 64) Lügenhetze Nr. 3: Muslime seien so unverschämt, in der Öffentlichkeit ihre „Andersartigkeit zu betonen“ „Keine Gruppe betont in der Öffentlichkeit so sehr ihre Andersartigkeit, insbesondere durch die Kleidung der Frauen.“ Jedem und jeder fallen hier auf Anhieb zahlreiche „Gruppen“ ein, die in der Öf- fentlichkeit ihre Gruppenzugehörigkeit betonen: Bun- deswehrsoldatinnen, Polizistinnen, Stewardessen. Und auch Kopftuch ist nicht gleich Kopftuch: Ist die Kopftuchträgerin eine Nonne oder vielleicht eine deutsche Bäuerin? All das ist für Sarrazin etwas ganz anderes, denn es „gehört zu Deutschland“. Doch wenn dieses Kopftuch eine muslimische Frau trägt, ereifern sich die Sarrazin und Co. Das muslimische Kopftuch gilt ihnen als Symbol einer „primitiven isla- mischen“ Kultur schlechthin. Diese reaktionäre Grundmentalität wird oft genug vom deutschen Ma- cho durch scheinbar fortschrittliche Argumente ge- gen „Frauenunterdrückung“ kaschiert. Die christlich- kulturellen Täufer wehrloser kleiner Kinder beschwe- ren sich über „religiösen Zwang“. Dabei ist es nicht ohne Ironie, daß gerade diejenigen, die sich über Kleidungsverbote in religiös verbrämten reaktionä- ren Regimes wie dem Iran ereifern, ebenfalls Klei- dungsverbote fordern. Sarrazins Aussage ist klar: „Muslimisch-Sein“ ist für ihn das Gegenteil von „Deutsch-Sein“. Muslime sind die „Andersartigen“ und die Grenzen ihrer Religionsfreiheit soll nicht be- stimmt sein von den Grundsätzen der Religionsfrei- heit, sondern vom „Empfinden“ der christlich-deut- schen Herrenmenschen. Lügenhetze Nr. 4: Beim Islam sei der Übergang zu „Gewalt, Diktatur und Terrorismus“ fließend „Bei keiner anderen Religion ist der Übergang zu Gewalt, Diktatur und Terrorismus so fließend.“ Erneut wechselt Sarrazin die Ebene und holt zu ei- nem Doppelschlag aus: Er spielt einerseits an auf die religiöse Maskerade internationaler reaktionärer po- litischer Kräfte und Regimes – und spekuliert dar- auf, daß die Hysterie in den westlichen imperialisti- schen Ländern über „islamistischen Terroristen“ in den Köpfen ihre Wirkung zeigt –, andererseits soll aber auch angedeutet werden, daß diese Ideologie Muslime selbst „gewalttätig“ und „terroristisch“ macht. Hier müssen wir mehrere Punkte klarstellen: Wenn eine Religion für „Gewalt, Diktatur und Terro- rismus“ steht, dann ja wohl die des „christlichen Abendlands“. Das gilt ganz besonders für Deutschland, wo es den herrschenden Klassen ge- lungen ist, ihre Politik der Unterdrückung von Min- derheiten zu kaschieren mit einer Ideologie des „christlichen Abendlandes“ gegen Juden und Musli- me. Diese herrschenden Klassen initiierten reaktio- näre Massenbewegungen und Pogrome bis zum Völ- kermord: Angefangen mit den christlichen Kreuzzü- gen, die in Deutschland (damals noch im Sinne eines geographischen Gebiets) gegen Juden und Muslime zur „Befreiung des heiligen Landes Palästina“ began- nen und nichts anderes waren als Plünderungs- und Mordzüge, über die christlichen „Deutschritter“ des Mittelalters mit ihren Eroberungszügen gegen die Völ- ker Osteuropas, über die Verfolgung der Inquisition, die durchaus nicht nur von der katholischen Kirche betrieben wurde, bis hin zu christlichen Missionaren im Nachtrab der deutschen Kolonialarmee in Afrika oder China oder zu Aufrufen von den Kanzeln der beiden deutschen Staatskirchen, für „Gott und Kai- ser“ in den Ersten Weltkrieg zu ziehen, bis hin zur Duldung und tatkräftigen Unterstützung der nazi-fa- schistischen Diktatur und des Nazi-Völkermords an der jüdischen Bevölkerung und den Sinti und Roma Europas, propagandistisch flankiert von den beiden deutschen Staatskirchen. Und wie sieht es heute aus in Deutschland? Von einer – grundsätzlich zu fordernden – voll- ständigen Trennung von Staat und Kirche in al- len Aspekten und Lebensbereichen kann keine Rede sein. Faktisch gibt es eine evangelische und katholische Staatskirche. Keinesfalls gleichberechtigt dazu sind muslimische Gemein- schaften allerdings auch heute nicht als „Kör- perschaften des öffentliches Rechts“ anerkannt und es werden ihnen somit zahlreiche staatli- che Privilegien (von der Erhebung von Kirchen- steuern bis hin zur Mitsprache in Rundfunkrä- ten) verwehrt. Während Kruzifixe an Schulen und in Krankenhäusern die „christlich-abend- ländische Leitkultur“ verkörpern, während Leh- rerinnen mit Kreuz um den Hals und verschlei- erte Nonnen als beamtete Lehrerinnen zur „christlichen Tradition“ in Deutschland gehö- ren, wurde ab 2004 in acht von 16 Bundeslän- dern für muslimische Lehrerinnen, die ein Kopftuch tragen, faktisch ein Berufsverbot er- lassen. Einem muslimischen Schüler eines Ber- liner Gymnasiums wurde 2010 höchstrichterlich das Beten in der Unterrichtspause verboten. Doch es geht nicht nur darum, daß Deutsch- land 2011 von einer Gleichberechtigung der Religionen meilenweit entfernt ist. Es geht vor allem darum, daß diese christlich-deutsche abendländische Kultur untrennbar verknüpft ist mit deutsch-chauvinistischer Diskriminierung und Unterdrückung. Die Lage von Muslimen in Deutschland ist seit 2001 insbesondere durch die immer wieder entfachte „Integrationsdebat- te“ und besonders seit der Sarrazin-Debatte be- drohlicher und gefährlicher geworden. Muslime werden terrorisiert und schikaniert durch gesetzliche Verordnungen, durch polizei- liche Stürmung von Gebetshäusern, durch „Ein- bürgerungstests“ wie etwa die Fragen des 2005 in Baden-Württemberg eingeführten sogenannten „Muslim-Tests“, einem Fragenkatalog der Einbürge- rungsbehörden für Gespräche mit „Anwärtern“ auf die deutsche Staatsbürgerschaft. Muslimische Mig- rantin, muslimischer Migrant in Deutschland zu sein, ist eben keine persönliche Angelegenheit der Religi- onszugehörigkeit. Es wächst der Bekenntnisdruck und der Vorwurf, sich nicht eindeutig abzugrenzen – mal vom „Terrorismus“, dann vom „Islamismus“, vom Kopftuch usw. Das ist so als würde jedem christli- ch-deutschen Mann als allererstes mal ein Bekennt- nis gegen Pädophilie abverlangt. In den bürgerlichen Medien aller Couleur wird gegen Muslime und den Islam gehetzt, in Fern- seh-Talkshows wird à la „Mit Muslimen auf der Schul- bank – Zumutung oder Chance?“ das Spektrum des „Diskutablen“ Schritt für Schritt erweitert. Ansonsten werden individuelle Muslime in den bürgerlichen Medien nur wahrgenommen, wenn sie entweder er- folgreiche Fußballspieler sind oder muslimische Co- medians, die sich über Muslime lustig machen dür- fen, oder wenn es sich um muslimische Islamkritiker handelt, die als Kronzeugen vorgeführt werden, um den Islam zu kritisieren. Als Individuen, als Menschen, die nicht ständig als Mitglied einer bestimmten Religion adressiert wer- den möchten, die selbst bestimmen möchten, in wel- chem Zusammenhang die eigene Relgionszugehörig- keit von Bedeutung ist oder nicht, werden sie von den christlich-deutschen Herrenmenschen nicht wahrgenommen. Diese reaktionäre, teilweise hysterische Grund- stimmung wird systematisch ergänzt durch Pro- paganda der Nazis, durch organisierte Nazi- Überfälle auf islamische Einrichtungen bis hin zu Nazi-Morden an Muslimen, die der deutsche Staat vertuscht durch die Weigerung, Angriffe mit muslimfeindlichem Hintergrund in seinen Statis- tiken gesondert aufzuführen. So ermordete am 1. Juni 2009 ein Nazi inmitten eines deutschen Gerichtssaals die aus Ägypten stam- mende Marwa El Sherbini durch gezielte Messersti- che. Ihr Mann, der seine schwangere Frau schützen wollte, wurde von dem Nazi lebensgefährlich ver- letzt. Ein Polizist schoß sogar „aus Versehen“ auf den Ehemann der Ermordeten und verletzte ihn erheb- lich. Dem Prozeß vorausgegangen war eine Anzeige von Marwa El Sherbini gegen den Nazi, der sie we- gen ihres Kopftuchs rassistisch beleidigt hatte. Der Nazi hatte u. a. geäußert, daß „nichteuropäische Rassen“ kein Recht hätten, in Deutschland zu leben. In den bürgerlichen Medien hieß es verharmlosend über den rassistischen Mord, daß es sich um die Tat eines Einzeltäters gehandelt habe. Tatsächlich hatte der Nazi-Mörder vor seiner Mordtat noch im Ver- handlungssaal erklärt: „Haben Sie überhaupt ein Recht, in Deutschland zu sein?“ und: „Wenn die NPD an die Macht kommt, ist damit Schluß. Ich habe NPD gewählt“ (Junge Welt, 9.7.2009). Dieser Mord war eben nicht das Verbrechen eines Einzeltäters, son- dern steht im engen Zusammenhang mit dem Vor- marsch der Nazis in Deutschland, mit der keineswegs nur von Nazis betriebenen anti-muslimischen rassis- tischen Hetze und der staatlichen Diskriminierungs- politik. Sarrazin – das ist in diesem Zusammenhang auch von Bedeutung – wirbt in seinem Buch um Verständnis für den Nazi-Terror, den er als „Aggressionen der autochtonen Mehrheitsbevölkerung gegen die fremde Bevölkerungsgruppe“ (S. 265) bezeichnet. Auf der Grundlage dieser massenhaften Feind- lichkeit gegenüber Muslimen entfaltet nun die muslimfeindliche Ideologie in den Köpfen der breiten Massen ihre Wirkung. Aus den seit 2002 jährlich durchgeführten Untersuchungen zur „grup- penbezogenen Menschenfeindlichkeit in Deutsch- land“ des Sozialwissenschaftlers Heitmeyer geht hervor, daß die Verachtung von Muslimen über sie- ben Jahre lang relativ stabil bei 25 % lag. Die Unter- suchung von 2010 ergab, daß nun rund 52 % der Deutschen die Ansicht vertreten, daß „der Islam eine Religion der Intoleranz“ sei. 46 % stimmten der Be- hauptung zu, es gebe „zu viele Muslime“ in Deutsch- land. (Untersuchung „Group-Focused Enmity in Eu- rope“ Zick Andreas; Küpper, Beate; Wolf, Hinna: „Wie feindselig ist Europa. Ausmaß Gruppenbezo- gener Menschenfeindlichkeit in acht Ländern“. In: Heitmeyer, Wilhelm, Deutsche Zustände. Folge 9, Berlin 2010, S. 50). Ähnlich auch die Ergebnisse der monatlichen Hauptbefragung von Allensbach von Ende September 2010: 55 % der Befragten stimm- ten der Aussage zu, daß Einwanderung von muslimi- schen Migranten „Deutschland schadet“. (FR, 1.10.2010)  Bevölkerungsgruppen aufgrund ihrer Religion oder Nationalität verächtlich zu machen, zu dis- kriminieren und zu verfolgen, hat in der deutschen Geschichte eine mörderische Tradition. Vor die- sem Hintergrund kommt die anti-muslimische Het- ze von Sarrazin und Co. „religiös“ und „kultu- rell“ kaschiert daher. In einem Interview mit ei- nem seiner Verteidiger in einer Sonderausgabe der „tageszeitung“ erklärte Sarrazin, daß er auf Anra- ten seines Verlages „in einer Spätphase“ der Ar- beit am Manuskript das Wort „Rasse“ überall durch „Ethnie“ ersetzt hat. Auch wenn es Sarrazin aus Opportunitätsgründen vermeidet, den Begriff „Rasse“ direkt zu verwenden und bei seiner Dar- stellung der Vererbung Verrenkungen mit Verglei- chen zur „Hunde- oder Pferdezucht“ macht, um „Unterschiede im Temperament und im Bega- bungsprofil“ (S. 92) zu begründen, auch wenn er seine rassistischen Beschimpfungen von Muslimen als „religiös-kulturelle“ Eigenheiten einer „Ethnie“ ka- schiert, ist klar. Das ist biologistisch-rassistisch. Sarrazins Programm: Anti-muslimische Hetze, Zwangseindeutschung und Zuwanderungsstop Sarrazin zeichnet ein in seinem Denken schreckli- ches Szenario über die „Zukunft Deutschlands“: Deut- sche werden sich vorkommen „wie Fremde im ei- genen Land“ (S. 300). „Wer wird in 100 Jahren ‚Wanderers Nachtlied‘ noch kennen? Der Koran- schüler in der Moschee nebenan wohl nicht“ (S. 393). Er beschwört das „westliche Abendland“, das durch muslimische Einwanderer unterzugehen drohe (S. 266). Damit schürt er – wie jeder Dema- goge – Ängste, damit „Deutschland erwache“. In die- ser Pose ist nicht nur das im Goebbelschen Stil ge- haltene indiskutable 9. Kapitel „Ein Traum oder Alb- traum“ formuliert. Drei Maßnahmen schlägt Sarrazin vor, um „Deutschland zu retten“: Arbeitszwang für die bereits in Deutschland le- benden muslimische Migranten aus der Türkei oder aus arabischen Ländern, die von Hartz IV leben müs- sen: „Jeder Arbeitsfähige (gemeint ist Erwerbs- lose, A.d.V) muß sich an gesetzlichen Arbeitsta- gen zur festgesetzten Uhrzeit dort einfinden, wo er eingeteilt ist. An Stelle gemeinnütziger Arbeit treten bei jenen Migranten, die der deutschen Sprache nicht ausreichend mächtig sind, Sprach- kurse.“ (S. 328) Zwangseindeutschung der bereits in Deutschland lebenden Muslime: „Aber wir wollen keine natio- nalen Minderheiten. Wer Türke oder Araber blei- ben will und dies auch für seine Kinder möchte, der ist in seinem Herkunftsland besser aufgeho- ben.“ (S. 326). Mit dem Zungenschlag des techno- kratischen Herrenmenschen erklärt er: „Verkehrs- sprache im Kindergarten ist Deutsch ... Wie in Frankreich wird das Kopftuch untersagt ... Der zuziehende Ehegatte hat für zehn Jahre keinen An- spruch auf Grundsicherung.“ (S. 328). Und schließlich fordert er Zuwanderungsstop für muslimische Migrantinnen und Migranten: „Die einzig sinnvolle Handlungsperspektive kann daher nur sein, weitere Zuwanderung aus dem Na- hen und Mittleren Osten sowie aus Afrika weitge- hend zu unterbinden.“ (S. 372) Wozu dient Sarrazins anti-muslimische Hetze? Diese Hetze soll Migrantinnen und Migranten aus arabischen Ländern ganz offiziell in Deutschland zu Menschen 2. Klasse deklarieren, Ungerechtigkeiten und Ungleichbehandlung auf den Behörden, in staat- lichen Einrichtungen, am Arbeitsplatz legitimieren. Darüber hinaus schaffen Verachtung und Hetze gegen Muslime ein „Zusammengehörigkeitsge- fühl“ der christlich-deutschen Bevölkerung, ein völkisches „Wir Deutsche“ gegen „die Anderen“, eine Bindung eines großen Teils der ausgebeute- ten und unterdrückten Massen an ihre eigenen Aus- beuter und Unterdrücker. Die von der herrschen- den Klasse in Deutschland gut ausgebauten Pro- pagandamaschinerien produzieren als Bindemit- tel die Herrenmenschen-Ideologie mit ihrer „christlich-abendländischen Leitkultur“, den „deutschen Stolz“ auf gemeinsame Merkmale der angeblich „Kultivierten“ und „Modernen“ gegen die „Zurückgebliebenen“ und „Unkultivierten“. Dabei geht es nicht allein um „negative Aus- chlußkriterien“ des „Deutsch-Seins“. Die deutsche Herrenmenschen-Ideologie enthält eben auch die Möglichkeit, sich selbst als „besser“ und fort- schrittlicher darzustellen. Insofern bietet die anti- muslimische Hetze von Sarrazin und Co. Muniti- on für die eigene Selbstgerechtigkeit und Schmei- chelei: Frauenfeindlichkeit in Deutschland, das sei ja wohl kein Problem der christlich-deutschen Männer, sondern vor allem ein Problem der zu- rückgebliebenen muslimischen Einwanderer, so tönt es. Auch Homosexuellenfeindlichkeit wäre in Deutschland längst überwunden, wenn nicht die muslimischen Jugendlichen wären, heißt es wei- ter. Und selbst für den Antisemitismus müssen musli- mische Migrantinnen und Migranten herhalten, so als ob dies nicht vor allem und in der Hauptsache ein Problem der christlich-deutschen Bevölkerung wäre. Auch wenn Sarrazin vor allem muslimische Mig- rantinnen und Migranten zu seinem Angriffsziel aus- erkoren hat, muß bewußt sein, daß die deutsche Herrenmenschen-Ideologie viele Facetten hat. Mit einer gewissen Willkür werden einzelne Bevölke- rungsgruppen, die in Deutschland leben, herausge- griffen und an den Pranger gestellt. Mal hat der An- tiziganismus, die Hetze gegen Sinti und Roma, Kon- junktur. Dann stehen antisemitische Stereotype, der Haß gegen Juden, im Vordergrund. Danach wird Ko- lonialrassismus gegen Menschen mit dunklerer Haut- farbe zum Thema gemacht oder gegen Flüchtlinge gehetzt. Doch der Kern der deutschen Herrenmenschen- Ideologie, des rassistischen deutschen Nationalismus ist es gerade, über ein großes Arsenal von Feindbil- dern zu verfügen, um dann mit einer Technik des „Teile und Herrsche“ die deutsche Bevölkerung für die herrschende Klasse gegen diesen oder jenen zum „Feind“ Erklärten zu mobilisieren, an sich zu binden und eine verbrecherische „Kameradschaft“ zwischen der herrschenden Klasse und ihrer Anhängerschaft in der Bevölkerung für Schikane, Drangsalierung und Verachtung, für Raub, Mord und Totschlag zu be- gründen. Insofern bietet Sarrazin mit seiner anti-mus- limischen Hetze der deutschen „Unterschicht“, die er keinen Deut weniger verachtet und drangsaliert, einen Fußabtreter, um zu erreichen, daß diese „Un- terschicht“ nach unten tritt – und nicht nach oben. Die „genetisch Guten“ stehen zu Recht oben: Eugenik, Herrenmenschenideologie und Antikommunismus In Verbindung mit seiner Hetze gegen Hartz-IV-Empfänger und seiner anti-islamischen und anti-muslimischen Hetze entwickelt Sarrazin ein ganz bestimmtes pseudowissen- schaftliches Fundament für sein extrem reaktionäres Gedankengebäude. Biologismus und Sozialdarwinismus, Teils in neuen Formen, Teils als Rückgriff auf biologistisch- rassistische Vorläufer der Nazis werden mobilisiert, um zu „begründen“, dass die Obe- ren, die Geld und Macht haben, nicht zufällig oben seien, sondern wegen der „angebo- renen Ungleichheit der Menschen“, weil sie von Geburt an angeblich schlauer, fleißiger und besser seien als die große Masse der von Geburt an angeblich Dummen und Faulen. Ebenso sei es „logisch“ und „natürlich“, dass die angeblich „klügeren Völker“ die an- geblich „Dümmeren“ dominieren und kolonialisieren. Diese biologistisch-genetische Argumentati- on dient Sarrazin und seinen Anhängern dazu, zwei grundlegende Verteidigungsstrategien zu unterfüttern: Erstens begründet Sarrazin so, warum der Kommunismus unmöglich sei. Sein reaktionä- res Menschenbild propagiert die alte antikom- munistische Grundthese, dass aus biologisch- genetischen Gründen angeblich nur eine kleine Gruppe von Menschen wirklich qualifiziert zur Führung der Gesellschaft befähigt sei. Die an- geblich „besten“ und „klügsten“, die Reichen, die Eliten, nicht zu vergessen die Banker, seien daher „natürlich“ und angeblich „von Gott ge- geben“ dazu bestimmt die Elite, die Oberschicht zu bilden. Die große Masse, von „Natur aus dumm“, angeblich „beschränkt und primitiv“ ha- ben dieser Elite zu folgen und ihrer Bestimmung gemäß für sie zu arbeiten. Hier konzentriert sich die uralte Ideologie der Ausbeuter. So wurde die Sklaverei begründet und verteidigt, so wurde die Macht der Feudalherren begründet und verteidigt und so wird heute die Realität des Kapitalismus und Imperialismus begründet und verteidigt, an- gereichert mit manchen modern klingenden Wör- tern. Zweitens wird diese Pseudo-Argumentation auch zur Begründung und Verteidigung der ko- lonialistischen und imperialistischen Herrenmen- schenmoral verwendet. Das ist schon seit fast 600 Jahren, seit dem Entstehen des Kolonialismus so. Seit der Entstehung des Imperialismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der Vorherrschaft einiger weniger imperialistischer Großmächte, die die Welt kolonial und neokolonial unter sich auftei- len und beherrschen, wird diese Pseudo-Argu- mentation mit gewissen Variationen weiter ver- stärkt. Es mag zunächst verblüffen, ist aber genau be- trachtet kein wirklicher Widerspruch: Die Ideale der bürgerlichen Revolution und der Aufklärung, die grundlegende Idee von der Gleichberechti- gung, den gleichen Rechten für alle Menschen wurden mit der Entwicklung der bürgerlich-ka- pitalistischen Gesellschaft zunehmend als bloß formales Lippenbekenntnis verwendet. Diese Ide- ale wurden zunehmend als Schutzschild für die real existierende Ausbeutung und Unterdrückung benutzt und zunehmend zur Vertuschung der real existierenden Nicht-Gleichberechtigung einge- setzt. Es war Karl Marx, es war der wissenschaftli- che Kommunismus, der diese formale Gleichbe- rechtigung etwa der Arbeiterinnen und Arbeiter, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen und den Kapitalisten, die diese Arbeitskraft kaufen, als Fassade für die in der Realität existierende Klas- sengesellschaft entlarvte und die Forderung ei- ner wirklichen auch ökonomisch fundierten Gleichberechtigung aller Menschen begründete und entwickelte. Der wissenschaftliche Kommu- nismus verschliesst dabei nicht die Augen vor den notwendigen Zwischenschritten: Der wis- senschaftliche Kommunismus propagiert und er- klärt die notwendigen Klassenkämpfe und be- waffneten Revolutionen sowie die notwendige Unterdrückung der herrschenden Klasse nach dem Sieg der Revolution. Es ist also klar, dass bei einer genaueren Be- trachtung von Sarrazins Thesen es gerade nicht nur um Sarrazin geht, sondern seine biologis- tisch-genetischen grundlegenden Behauptungen ganz fest in der Ideologie des Kapitalismus, der Ausbeutung und Unterdrückung verankert sind. Bevor wir uns nachfolgend der kolonialis- tisch-imperialistischen Herrenmenschenideolo- gie zu wenden, macht es daher Sinn zunächst seinen biologistisch-eugenischen Antikommu- nismus zu behandeln. Antikommunismus: Armut ist „...grundsätzlich unaufhebbar“: Die biologistische These von den dummen oder intelligenten Menschen Ein zentraler Ausgangspunkt Sarrazins ist die These von der „angeborenen Ungleichheit der Menschen“ (S. 249). Die entscheidende Frage ist hier: Wofür soll das relevant sein? Wer hat je behauptet, dass alle Menschen gleich seien? Sar- razin führt wie alle Demagogen einen Kampf gegen Windmühlen. Dass der eine Mensch grö- ßer ist als der andere, dass der eine Mensch eine andere Nase oder andere Füße hat wie der ande- re Mensch, diese angeborenen Merkmale sind in Wirklichkeit doch völlig irrelevant, wenn es um die Frage geht, warum es einen sich immer mehr zuspitzenden sozialen und ökonomischen Ge- gensatz zwischen den „oberen zehntausend“ und der großen Masse „unten“ gibt. Das weiß Sarrazin im Grunde auch und kon- zentriert sich daher im Verlauf seiner Darstel- lung auf die mit Penetranz wiederholte Behaup- tung, dass es angebliche angeborene Unterschie- de im Intelligenzgrad der Menschen gäbe, mit der Pointe, dass dieser angeblich einmal existie- rende Unterschied durch Bildung und Lernen auf gar keinen Fall verändert werden könnte. Deshalb heißt es bei Sarrazin: „Auch im bes- ten Bildungssystem wird die angeborene Un- gleichheit der Menschen durch Bildung nicht verringert“ (S. 249). Er behauptet weiter: „Wer schön oder intelligent ist, hat andere Chancen als jemand, der hässlich oder dumm ist.“ (S. 129) Es gäbe eben, so Sarrazin, eine „gene- tisch bedingte Variabilität der menschlichen Anlagen“ und dazu gehörten eben auch „ange- borene Unterschiede in der Bildungsfähigkeit“ (S. 213). Nun könnte man sich den Spaß machen zu po- lemisieren, dass nun gerade eine Figur wie Sar- razin das Gegenteil beweist. Aber das trifft nicht den Kern. Das Problem ist folgendes: Die entscheidende Frage ist nicht, ob in einem bestimmten Alter die einen Kinder schneller, die anderen Kinder langsamer lernen. Die entschei- dende Frage ist, ob sich das verändern lässt, wel- che Belege und Beweise es dafür gibt, dass die Möglichkeit aller Menschen sich zu entwickeln und zu bilden eine ganz grosse nach oben offe- ne Skala enthält oder nicht. Im Mittelalter war es so, dass rund 95 Prozent der Bevölkerung Analphabeten waren. Das lag keineswegs an der Biologie dieser 95 Prozent, sondern an den damals bestehenden gesellschaft- lichen Verhältnissen. Die herrschenden Ideen, welche die Ideen der herrschenden feudalen Machthaber waren, besagten aber, dass es an- geblich naturbedingt oder „gottgegeben“ sei, dass nur 5 Prozent lesen und schreiben konn- ten. Heute können in Deutschland 95 Prozent lesen und schreiben. Das zeigt die Veränderlich- keit, die Dehnbarkeit der „Intelligenz“. Es ist nichts als eine reaktionäre Herrschafts- lüge zu behaupten, dass der Großteil der Bevöl- kerung einer umfassenden höheren Bildung we- gen der „objektiven Grenzen“ ihrer angeblich mangelnden Intelligenz nicht zugänglich sei. Was sind die Fakten? Von klein auf existiert ein alle erfassendes, reaktionäres und sehr rasch selek- tierendes Bildungssystem, das sich gerade nicht das Ziel setzt allen Menschen umfassend Bil- dungsmöglichkeiten anzubieten. Dieses Bil- dungssystem dient nur einem Ziel, nämlich die benötigten Arbeitskräfte für die verschiedenen Klassen und Schichten der Gesellschaft zu se- lektieren und die Menschen in die für den Kapi- talismus notwendigen Arbeitsbereiche (ein- schließlich einer industriellen Reservearmee, den Erwerbslosen) hinein zu manövrieren. Die gesamtgesellschaftliche Realität ist ge- kennzeichnet durch eine milliardenschwere Ver- dummungsindustrie, durch brutale Auslaugung der physischen und psychischen Kräfte der gro- ßen Masse der Werktätigen, durch die auf De- moralisierung abzielende Behandlung der Men- schen und durch ihre Ausbeutung und Degra- dierung. Wer diese Realität analysiert, könnte erkennen – wenn ihn sein Klassenstandpunkt nicht hindert – welches gigantische Bildungs- potential hier planmäßig und bewusst nieder ge- halten wird und welche Möglichkeiten bei einer Zerschlagung solcher Herrschaftsstrukturen existieren werden. Machen wir uns noch ein weiteres Späßchen und akzeptieren einen Augenblick, die hoch- umstrittene Logik heutiger sogenannter Intelli- genztests. Die große Masse der oberen Zehntau- send, die ohne jede Leitungstätigkeit oder sons- tige Arbeit, die den Namen verdient, benutzen ihre angebliche Intelligenz dazu, sich darüber auseinanderzusetzen, wie der Überfluss an Geld- mitteln in Luxuswaren und sonstigen Ver- schwendungen ausgegeben werden kann. Es dürfte nicht zu kühn sein zu behaupten, dass die- se sogenannte „Elite“ nicht wirklich besser bei einem wie gesagt hoch umstrittenen IQ-Test ab- schneidet, als etwa 1000 Facharbeiter und Fach- arbeiterinnen aus verschiedenen Industriezwei- gen. Die Behauptung von Sarrazin, „dass die durchschnittliche Intelligenz mit dem sozial- ökonomischen Status steigt“ (S. 226), ließe sich so auch immanent wiederlegen. Aber das, wie gesagt, nur nebenbei. An einer Stelle lässt Sarrazin dann deutlich die Katze aus dem Sack. Sarrazin verkündet: „Ein- kommensunterschiede und damit relative Ar- mut sind aus den beschriebenen logischen und tatsächlichen Gründen grundsätzlich unauf- hebbar ...“ (S. 135, H. v. V.). Der Apologet des Kapitalismus hat gesprochen. Herrenmenschenideologie: „Die gemessene Durchschnittsintelligenz der Völker ...“ Sarrazin behauptet, „dass der Wohlstand der Nationen mit der gemessenen Durchschnitts- intelligenz der Völker positiv korreliert.“ (S. 214) „Reiche“ Länder wie Deutschland, die USA, Frankreich, Japan usw. sind demnach in- telligenter als „arme“ Länder wie z. B. in Afri- ka, Asien oder Südamerika. Nicht zu vergessen: Intelligenz ist für Sarrazin eine angeborene, un- veränderbare biologische Eigenschaft. Sarrazin verklärt und beschönigt damit also auch die ko- loniale bzw. heute vor allem neokoloniale Un- terdrückung und Ausplünderung der großen Mehrheit der Länder der Welt „unten“ durch eine kleine Zahl imperialistischer Länder „oben“ zur angeblichen Naturgegebenheit. Um das zu widerlegen und zu entlarven ge- nügt im Grunde ein Blick in die Geschichte. Länder wie Ägypten und andere Regionen im Nahen und Mittleren Osten, die heute im Ver- gleich mit Deutschland „arm“ sind, waren frü- her einmal weit voraus, sie hatten in der frühen Geschichte bereits einen hohen Kulturstand mit Philosophie, Mathematik, Physik usw., als die Germanen auf dem Gebiet des heutigen Deutschland tatsächlich ohne all das in den Wäl- dern lebten. Auch an diesem Punkt wird sehr deutlich, wie sehr sich Sarrazin in den Fußstapfen seiner Eu- genik-Vorgänger bewegt. Sarrazin beruft sich ausdrücklich auf Galton (S. 92f.). Dieser hat nicht nur in England seine „Intelligenzfor- schung“ betrieben, sondern ist auch jahrelang durch Afrika gereist und hat dort „Intelligenz- messungen“ betrieben. Beim Vergleich der „Ne- gerrasse mit der Anglosächsischen“ kommt bei ihm heraus: „Die durchschnittlichen intellek- tuellen Fähigkeiten der Negerrasse liegen in etwa zwei Stufen unter den unsrigen.“ (F. Gal- ton, Genie und Vererbung, Leipzig 1910, S. 394) Und: „Der australische Typus endlich, ist noch um einen Grad tiefer, als der afrikanische Ne- ger.“ (Ebenda, S. 362) Zusätzliche Provokationen, die nicht unbeantwortet bleiben dürfen Es wurden hier zunächst aus der Fülle von re- aktionären und antiwissenschaftlichen und oft ins absurd lächerlich gehenden Thesen Sarrazins zwei uns wesentlich erscheinende Denkmuster des Antikommunismus und der Herrenmen- schenideologie behandelt und in den Vorder- grund gestellt. Wir sind deshalb so vorgegan- gen, um der unübersichtlichen und unlogischen Darstellungsweise Sarrazins nicht auf den Leim zu gehen und um nicht auf die zusätzlichen Pro- vokationen Sarrazins vorrangig oder allein ein- zugehen. Es ist durchaus von Bedeutung, dass Sarrazin einen zutiefst dreckigen Antisemitismus betreibt und das Märchen von den „jüdischen Genen“ aufwärmt (verkleidet in einem durchsichtigen Lob der angeblich „gentisch bedingten hohen Intelligenz der Juden“). Es ist durchaus von Bedeutung, dass ganz offensichtlich sein Lek- tor seine verbal-rassistischen Ausfälle noch kor- regiert und die Begriffe „Rasse“ durch andere ersetzt hatte. Es ist deswegen von Bedeutung, um als Bestandsaufnahme über „deutsche Zu- stände“ festzuhalten, wie weit ein Bundesbank- er und SPD-Mitglied gehen kann, um Elemente rassistischer Ideologie und der Nazi-Ideologie als öffentlich diskutierbare Ansichten in Mas- senmedien und politischen Parteien aller Art ein- zuführen – von „Bild“ bis Maischberger, von SPD bis NPD. Verbrecherische Eugenik Besonders erschreckend ist, dass eine direkt auch im bürgerlichen Sinne verbrecherische Pas- sage offensichtlich gar nicht zur Kenntnis ge- nommen und in den uns bekannten Polemiken keine Rolle gespielt hat. Wir meinen die offene Forderung nach Eugenik gegen „dysgenisch wirkende Geburtenstruktur“. („Dysgenisch“ bedeutet in der Sprache der Eugeniker die Ver- breitung von angeblich „schlechten“ Genen). Welche Maßnahmen schlägt Sarrazin vor um gegen die „schlechten Gene“, um gegen die an- geblich mit „schlechten Genen“ ausgestatten Menschen vorzugehen? Es muss bewusst sein: Diese Maßnahmen schlägt Sarrazin in einem Land vor, in dem auch schon vor der Nazi-Zeit die Ideologie der Menschenzucht und der sozi- aldarwinistischen „natürlichen Selektion“ exis- tierte und wo Hundertausende als „dysgenisch“ definierte Menschen sterilisiert und ermordet wurden. Sarrazin gibt einen Beurteilungsmaß- stab an. Da taucht weder der Eid des Hypokra- tes auf, noch die UNO-Menschenrechtserklä- rung, noch bürgerliche verfassungsrechtliche Grundsätze – im Gegenteil. Was da nicht passt, muss passend gemacht werden. Bei Sarrazin heißt es:„Was ist geeignet, die Geburtenrate zu heben, und was ist geeignet, eine dysgenisch wirkende Geburtenstruktur zu verhindern? Der ausschließliche Beurteilungsmaßstab ist dabei die Wirksamkeit der Maßnahmen und die ih- nen zugrunde liegende pragmatische Ver- nunft.“ (S. 378) Es gibt also nur einen, ausdrücklich nur einen „ausschließlichen Beurteilungsmaßstab“ die „Wirksamkeit der Maßnahmen“. Was kann das heissen? Was soll das heissen? Was ist wirksa- mer als Zwangssterilisation und Massenmord? Die Antwort auf diese Frage wird in der Manier eines Demagogen in den Raum gestellt und dem Publikum überlassen. Ekelhafter deutscher Nationalismus Um seinen verschiedenen reaktionären Ansich- ten größere Popularität zu verschaffen zieht Sar- razin im Verlauf des gesamten Buches immer wieder ein und denselben Joker, ähnlich wie Politiker aller Couleur: den deutschen Natio- nalismus. Das ist typisch für dieses Buch, aber dieser deutsche Nationalismus wirkt wie einge- streut. Es wird auch nicht dem Anschein nach begründet, sondern deutsch-nationalistische Bruchstücke als Zugabe beigemischt, bei der Sarrazin sich breiter Zustimmung sicher sein kann. Extrem primitiv und nur an das Gefühl appe- lierend wird eine angeblich „drohende Katastro- phe“ beschworen, die alle tief erschüttern soll. Sarrazin beschwört den „Abschied unseres Lan- des aus seiner tausendjährigen Geschichte“ (S. 372). Ein tausendjähriges Reich soll es also sein. Eine dümmliche Frage und Aussage nach der anderen wird wie an einer Kette aufgereiht. Re- aktionäre Allerweltssprüche wie „Ich möchte nicht, dass wir zu Fremden im eigenen Land werden“ (S. 309) oder „Was wird denn in Deutschland geschehen, wenn das deutsche Volk still dahinscheidet?“ (S. 346) sind da zu finden. Sarrazin bemüht dann zwar nicht das „ge- sunde deutsche Volksempfinden“, aber faselt von einem „gesunden Selbstbehauptungswillen als Nation“ (S. 18). Was mit den Kranken ge- schieht, die „dysgenisch“ sind, haben wir schon angesprochen. Der Kampf gegen den widerlich triefenden, ekelhaften deutschen Nationalismus ist eine all- gegenwärtige Aufgabe und zeigt einmal mehr: Es geht nicht nur um Sarrazin! Deutschland medial inszeniert und flankiert wird und die im engen Zusammenhang mit den aktuellen und langfristigen Zielen des deutschen Imperialismus steht.

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