Freitag, 14. September 2012
Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab/ Analyse
Es ist relativ schnell ruhig geworden um einen Vorgang, der noch vor einigen Wo-
chen tagtäglich Presse und Fernsehen beschäftigt hat. Thilo Sarrazin, SPD-Mitglied,
Banker und langjährige Inhaber politischer Ämter hat in einem zirka 450 Seiten
umfassenden Pamphlet „aufrütteln und provozieren wollen“ – so heißt es. Sarrazin
sei dabei zwar „ein wenig über das Ziel hinaus geschossen“, habe aber doch „Kern-
probleme getroffen“. Geheuchelte oder richtige Empörung über einzelne Passagen
werden rasch gedeckelt durch die vorherrschende Beteuerung, dass er ja wenigstens
Kernprobleme erfasst und angesprochen habe.
Klar wurde schnell, wer das Gestammel des Autors nur einmal im Fernsehen gese-
hen hat, dass es nicht um eine Einzelperson geht, sondern um eine gezielt von bür-
gerlichen Medien – auch denen die scheinbar Sarrazin widersprachen – hochgezoge-
ne reaktionäre Kampagne. Das weitgehend erreichte Ziel dabei ist, indiskutable Thesen
als diskutable darzustellen, Standards öffentlicher und wissenschaftlicher Debatten
nach unten zu verschieben und der Un-Kultur demagogischer Hetze gezielt einen
bestimmten Platz in der deutschen Öffentlichkeit zuzuweisen.
In der Geschichte der BRD kam es und kommt es immer wieder zu solchen insze-
nierten medialen Ereignissen, die unabhängig von einzelnen Personen durchaus ernst
genommen werden müssen und eine ernste Herausforderung nicht nur für kommu-
nistische Kräfte darstellen. Denn es geht darum zu verhindern, dass selbst minimals-
te demokratische Errungenschaften nicht noch weiter zurückgedrängt werden.
Auffallend ist, dass auch nach Wochen, trotz einzelner politisch begrüßenswerter
Proteste und Aktionen und einzelnen sehr scharfen und deutlichen Protesten
(insbesondere vom Zentralrat der Juden in Deutschland), bis heute keine das gesam-
te Buch umfassende Widerlegung und fundierte Zurückweisung erschienen ist. Und
das bei einem Buch, das mit kaum verhüllten rassistischen Thesen in kürzester Zeit
zum größten Bestseller in Deutschland seit 1945 geworden ist.
Wenn nachfolgend die Thesen und falschen Argumentationsstrukturen im Mittel-
punkt unserer Widerlegung stehen, so ist uns doch bewusst: Sarrazins kommen und
gehen, aber der Vormarsch reaktionärer Ideologie in wechselnden Formen kann nur
verlangsamt oder gestoppt werden, wenn umfassend und überzeugend auf allen Ebe-
nen nachvollziehbar Inhalt und Methode dieses neuen zentralen Angriffs zurückge-
schlagen werden kann.
Hier wollen wir zuerst thesenartig das gesamte Buch einschätzen, seine reaktionären
Ziele und Methoden. In einem zweiten Schritt werden die Thesen dann in weiteren
Stellungnahmen von uns detailliert belegt und bewiesen werden.
Thesen
I.
Gegen wen richtet sich
dieses rassistische Buch?
1. Dieses Buch richtet sich sehr deutlich an die Mit-
tel- und Oberschicht in Deutschland und hat inso-
fern als erstes die Hartz IV-Empfänger aufs Korn
genommen. „Die da Unten“, das angeblich „faule
Pack“, die angeblich „Verwöhnten“ und angeblich zu-
nehmend „Degenerierten“ werden als Zielscheibe ins
Visier genommen. Deren reales materielles Elend strei-
tet Sarrazin rundweg ab. Die „Armutsrisikoschwel-
le“ von Hartz IV liege nämlich „in der Nähe der fik-
tiven Millionärswelt“, wenn man Hartz IV etwa mit
der Lage der Landarbeiterinnen und Landarbeiter in
Indien vergleiche (S. 137). Im Vorbeigehen, nicht als
Hauptsache wird mit einem Unwort des Jahres die
„Altenlast“ (S. 48) in die Diskussion geworfen. Es
werden Ängste geschürt, dass die Menschen länger
leben, länger Rente kassieren ohne was zu arbeiten,
ohne was zu „leisten“ – der Gedanke des „sozialver-
täglichen Frühablebens“ wird eher indirekt nahe ge-
legt als direkt ausgesprochen.
Mit provokativen Beschimpfungen wird die altbe-
kannte These „Arbeit macht frei“, also Arbeitszwang
und Repressionen aller Art zwecks Kürzung der
Zahlung im Staatshaushalt, als eine Art erste Front
festgelegt. Dem „faulen Pack“ gelte es Beine zu ma-
chen durch die „Absenkung der Grundsicherung“
(S. 178) und durch „Arbeitszwang“, der widrigenfalls
durch die Strafe des sofortigen kompletten Einkom-
mensentzugs „konsequent durchgesetzt“ (S. 183)
werden müsse. Neben dieser eher altbekannten schon
von Westerwelle und Co. bedienten Argumentations-
schiene ist nun der nächste Schritt, eine weitere
darunter stehende Gruppe ins Visier zu nehmen.
2. Noch weit unter den deutschen Hartz IV-Emp-
fängern, die skrupellos beschimpft werden, stehen für
Sarrazin und Co. weitere Bevölkerungsgruppen. An
der Spitze der laut Sarrazin „für Deutschland schäd-
lichen Elemente“ stehen pauschal, einzeln und in Kom-
bination „Muslime, Araber, Türken, Afrikaner“. Eine
„Zuwanderungs- und Integrationsproblematik“
gebe es heute in Deutschland „ausschließlich mit
Migranten aus der Türkei, Afrika, Nah- und Mit-
telost, die zu mehr als 95 Prozent muslimischen
Glaubens sind“ (S. 260). Der Spitzenreiter der an-
zugreifenden Gruppe ist zumindest teilweise auswech-
selbar ebenso wie die Art der Argumentation gegen
diese Gruppe ihren Schwerpunkt ändert. Dabei er-
gibt sich im Wesentlichen folgendes Bild:
Auf einer ersten Ebene wird die Religion (Islam)
als entscheidender Punkt der hetzerischen Argumen-
tation in den Vordergrund gestellt. Keine andere Re-
ligion trete so „fordernd“ auf, keine andere Immig-
ration sei so stark wie die muslimische mit „Inan-
spruchnahme des Sozialstaats und Kriminalität
verbunden“, bei keiner anderen sei „der Übergang
zu Gewalt, Diktatur und Terrorismus so fließend“
(S. 292).
In einer zweiten Ebene wird die Region (arabi-
scher Raum, Afrika, Türkei) als Folie für hetzeri-
sche Verleumdung und pauschalisierende Urteile ver-
wendet, wobei die Stigmatisierung eine gewisse Be-
liebigkeit hat. Sind’s mal die „Zuwanderer aus dem
ehemaligen Jugoslawien, der Türkei und den arabi-
schen Ländern“, die Sarrazin als „Kern des Integra-
tionsproblems“ (S. 59) ausmacht, ist’s ein andermal
die „Zuwanderung aus Afrika sowie Nah- und Mit-
telost“, welche „die problematische“ sei (S. 46).
Auf einer dritten Ebene schließlich wird die angeb-
liche „Rasse“, getarnt als Argumentation mit Ge-
nen, Biologismus/Sozialdarwinismus und rassis-
tischen Methoden der sogenannten Intelligenz-
forschung als pseudowissenschaftliches Fundament
für sein ganzes Gedankengebäude gelegt. Als „gene-
tisch Minderwertig“ denunziert werden dabei sowohl
Angehörigen der „Unterschicht“ als auch die musli-
mischen Immigranten. Da sich die angeblich Dum-
men „unten“ schneller vermehren würden als die an-
geblich Intelligenten „oben“ und da sich vor allem auch
die muslimische Minderheit „stärker fortpflanzt als
ihre Gastgesellschaft“ (S. 277) bedeute das alles:
„Das Deutsche in Deutschland verdünnt sich
immer mehr, und das intellektuelle Potential ver-
dünnt sich noch schneller.“ (S. 393)
Kaum getarnt greift Sarrazin dabei zurück auf die
Vorläufer der Rassentheorien der Nazi-Ideolo-
gen. So beruft er sich ausdrücklich auf Francis Gal-
ton, den rassistischen Erfinder der Eugenik, „dass
eine unterschiedliche Fruchtbarkeit verschiede-
ner Bevölkerungsgruppen auch dysgenische Wir-
kungen haben und die natürliche Selektion quasi
auf den Kopf stellen könnte“ (S. 93). Ebenso stützt
er sich auf heutige Rassisten und Biologisten. Sarra-
zin beruft sich auf Herrnstein und Murray (S. 419),
welche in ihrem Buch „The Bell Curve“ 1994 pseu-
do-wissenschaftlich zusammengelogen haben, dass
Menschen mit dunkler Hautfarbe in den USA des-
halb viel stärker von Armut betroffen sind, weil sie
angeblich im Durchschnitt genetisch bedingt dümmer
seien. Zu den angeblich „wissenschaftlichen Autori-
täten“ Sarrazins gehört auch der Gehirnvolumen ver-
messende deutsche rassistische „Hochbegabten“-
Psychologe D. Rost (S. 93, Fußnote 64). Kein Zu-
fall ist auch Sarrazins Berufung auf den sozialdarwi-
nistischen „Verhaltensforscher“ Eibl-Eibesfeldt mit
seinen namentlich auch von der NPD propagierten
biologistischen Thesen über die „Tragekapazität“
eines Landes und die drohende „Landnahme“ durch
Einwanderung (S. 257).
3. Für Sarrazin sind muslimische Menschen in
Deutschland wertlos, da sie „mehr Kosten als Nut-
zen“ verursachen würden (S. 366, siehe auch S. 267).
Doch es wäre falsch sich täuschen zu lassen, als gin-
ge es nur um bestimmte Gruppen, die zur Zielscheibe
erklärt werden. Es gehört zu den in allen Kapiteln
ständig wieder auftauchenden Denkfiguren des Ban-
kers Sarrazin, dass er jeden Anflug und jede Variante
von Humanismus als Firlefanz abtut und als entschei-
dendes Kriterium für all seine Überlegungen eine
„Kosten-Nutzen“-Rechnung aufstellt als zentralen
Angriff auf solche veralteten Ideen wie Menschen-
rechte und Menschlichkeit. Menschen werden zu
Sachen degradiert.
II.
Zentrale Methoden der Tarnung
und der Demagogie
1. Zunächst einmal außerhalb dieser gesamten Ar-
gumentation, bei genauem Hinsehen aber nicht ohne
innere Logik, entfalten Sarrazin und Co. ihren geneti-
schen Rassismus mit einem scheinheiligen Lob auf die
„hochintelligenten Juden“: die Juden würden durch ihre
hohe Intelligenz beweisen, dass die Einteilung der
Menschen nach Genen angeblich wissenschaftlich
begründet, berechtigt und sinnvoll sei. Dieser propa-
gandistische Schachzug eines Lobs des „Juden-
Gens“ (S. 93 f.) greift unmittelbar politisch nicht die
jüdische Bevölkerung an, ja scheint ihr einen Ehren-
platz zu sichern. Das ist aber nur ein Mäntelchen, das
rasch abgeworfen werden kann. Denn es geht in die-
sem Buch Sarrazin und Co. nun wahrlich nicht um
ein Loblied auf die jüdische Bevölkerung, sondern
um pseudowissenschaftliche Begründung rassistisch-
genetischer IQ-Forschung.
2. Um es hier vorweg zu nehmen, was im Einzel-
nen gezeigt werden wird: Es geht bei Sarrazin um
die Behauptung von kausalen Zusammenhän-
gen, wo keine Kausalität bewiesen wird und
bewiesen werden kann (etwa zwischen Religion
und Intelligenz) und es geht um Vertauschung von
Ursache und Wirkung (soziale Lage und Bil-
dungsfähigkeit/Bildungsniveau). Es wird sich zei-
gen, dass als dritte Komponente in diesem Trio
des Lobs der Unlogik die Methode der geziel-
ten Auslassung betrieben wird (z. B. Ignoranz
gegen die große Bedeutung des arabischen Raums
für die Weltkultur). Bei den einzelnen Argumenta-
tionsschritten gilt es jeweils auf diese drei Punkte
hinzuweisen.
3. Der Überblick über diese neue Aggression der
Reaktion wäre nicht vollständig, wenn nicht das her-
vorstechende Merkmal, das Spiel mit Zahlen und
Statistiken benannt und von uns ins Visier genom-
men wird. Gerade an diesem Punkt wird es darum
gehen, nicht in aufgestellte Fallen zu laufen, nicht De-
taildiskussionen aufzunehmen und sich darin zu ver-
wickeln sondern eher strukturell und exemplarisch
die Frage der Relevanz oder Irrelevanz der von ihm
im Überfluss angestellten statistischen Berechnungen
zu vertiefen.
4. Indirekt liest sich das Buch von Sarrazin wie
ein Lehrbuch von Demagogie, Halbwahrhei-
ten und Fälschungen, kaum eine der bewährten
Methoden wird ausgelassen. (Insofern macht es
Sinn am Ende der Analyse auch eine Liste der ent-
larvten üblen Methoden aufzustellen – von A wie
Autoritäten als Schutzschild bis Z wie Zitatenfäl-
schung.) So tut Sarrazin gar so, als ginge es ihm
angeblich um Frauenemanzipation. Sarrazin, der
selbst behauptet, Männer und Frauen hätten ge-
netisch bedingt „unterschiedliche Schwerpunk-
te in ihrer Intelligenz“ und Männer einen Vor-
sprung beim „logischen Schlussfolgern“
(S. 215), spielt sich zugleich als scheinbarer Ver-
teidiger der Interessen und Rechte muslimischer
Frauen auf. Diese angeblich genetisch „minder-
wertigen“ Frauen will er in Wirklichkeit möglichst
rasch gar nicht in Deutschland haben.
III.
Die Haltung zur Nazi-Zeit und
der Plan für die Zukunft
Deutschlands
1. Sarrazin versteht sich als Vordenker für die Zu-
kunft Deutschlands. Sarrazin zeichnet sozusagen aus
„Liebe zu seinem Land“ ein „Horror-Bild“ der Zu-
kunft. „Was wird denn in Deutschland gesche-
hen, wenn das deutsche Volk still dahinscheidet?
Wird man hier dann mehrheitlich türkisch spre-
chen oder arabisch ...“ (S. 346). Er beschwört
zugleich das „westliche Abendland“, das durch die
muslimische Immigration unterzugehen drohe
(S. 266). Damit werden – wie bei jedem Demago-
gen – Ängste geschürt, damit „Deutschland erwa-
che“ und nicht blind ins Unglück renne. In dieser Pose
ist nicht nur das im Goebbelsschen Stil gehaltene,
undiskutierbare 9. Kapitel „Ein Traum und ein Alp-
traum“ geschrieben. In diesem Stil ist das gesamte
Buch verfasst und unterlegt.
2. Dabei hat jeder „Vordenker“ in Deutschland ein
Problem, das auch Sarrazin anpackt. Ein Problem,
das jeder deutsche Nationalist – ob er Rassist ist oder
nicht – ebenfalls hat: die Nazi-Zeit. Vor seinem Zu-
kunfts- und Alptraum betreibt Sarrazin – in der Öf-
fentlichkeit weitgehend nicht thematisiert – handfes-
ten Geschichtsrevisionismus, Bagatellisierung der
NS-Zeit in Sprache und Inhalt, vor allem aber
Entsorgung Deutschlands von diesem unangenehmen
Thema, um frisch und fromm alle Kernklischees des
deutschen Nationalismus (in der heutigen Atmos-
phäre kein großes Kunststück) zu bedienen – bis hin
zu dem Begriff der „Deutschenfeindlichkeit“
(S. 298), der gezielten Ablehnung nationaler Min-
derheiten, bis hin zu einem regelrechten Germanisie-
rungsprogramm („Aber wir wollen keine nationa-
len Minderheiten“, S. 326).
3. Das politische Programm des SPD-Mannes Sar-
razin ist parteiübergreifend und kann so zusammen-
gefasst werden: Gezielt gesteuerte Aufzucht des IQs
in Deutschland durch positive und negative Eu-
genik, durch Kindervermehrung in der „intelligenten
Oberschicht“ einerseits und Kinderverminderung bei
Hartz IV andererseits. Sarrazin will einen gesellschaft-
lichen und politischen Konsens darüber, „dass es
dringend, zwingend und alternativlos ist, die Ge-
burtenrate in Deutschland erheblich zu steigern
und gleichzeitig die Anteile der Mittel- und Ober-
schicht an den Geburten deutlich zu erhöhen.“
(S. 373) Dies steht im Zusammenhang mit der ural-
ten reaktionären These, dass überhaupt einer „Über-
bevölkerung“ gezielt entgegengewirkt werden muss.
So sei es die „einzig sinnvolle Handlungsperspek-
tive“, den Zuzug der „genetisch Minderwertigen“,
aus arabischen Ländern, Afrika, der Türkei, ja Mus-
limen überhaupt „weitgehend zu unterbinden“
(S. 372).
Wenn man so will, ist dies – neben all den anderen
Provokationen – die entscheidende eugenische Pro-
grammatik bei Sarrazin.
In der genaueren Analyse wird es darauf an-
kommen, den realen Zusammenhang der von
Sarrazin ausgebreiteten reaktionären, nationa-
listischen und rassistischen Thesen mit der Ide-
ologie und Politik des deutschen Staats, mit den
aktuellen und langfristigen Zielen des deutschen
Imperialismus nicht auszublenden, sondern so
genau wie möglich herauszuarbeiten – gerade
auch vor dem Hintergrund der geschichtlichen
Erfahrungen des Nazi-Faschismus.
Warum der Rassist Sarrazin gezielt auf Hartz-IV-
Betroffene losgeht
Sarrazins Programm:
„Konsequent durchgesetzter
Arbeitszwang“
Die Spatzen pfeifen es von den Dächern, daß Sarrazin durch schamlose Redensarten
provoziert. Wie Marie-Antoinette, die Frau von Ludwig XVI, die im 18. Jahrhun-
dert angesichts der Forderung der Hungernden nach Brot erklärt haben soll: „Wenn
sie kein Brot haben, sollen sie doch Kuchen essen!“ (nebenbei: sie und ihr Gemahl
wurden während der Französischen Revolution für ihre Verbrechen zur Rechen-
schaft gezogen), so provoziert Sarrazin mit Sprüchen und Verallgemeinerungen wie
„Wenn den Hartz-IV-Betroffenen das Heizgeld nicht reicht, sollen sie eben einen
dickeren Pullover anziehen.“ oder: „Wenn sie nicht soviel rauchen und saufen wür-
den, hätten sie auch keine finanziellen Probleme“ usw.
Unserer Meinung nach ist es von ganz besonderer Wichtigkeit, solche dummen und
arroganten Provokationen zu brandmarken, aber sich auch nicht davon ablenken
zu lassen. Denn es geht dem Rassisten Sarrazin um ein im Einzelnen doch schwer zu
durchschauendes Ränkespiel: Einerseits prügelt er auf die „biologisch-genetisch ver-
dorbene Unterschicht“ in Deutschland ein, um dann gleichzeitig das Angebot zu
entfalten, noch stärker auf aus seiner Sicht „nicht-deutsche“ Gruppierungen einzu-
schlagen.
Es sei an dieser Stelle nochmals betont, auch wenn wir uns wiederholen: Bei der
„Sarrazin-Debatte“ geht es nicht um Sarrazin als Einzelperson. Es geht vielmehr um
den Vormarsch einer reaktionären Ideologie, die von den bürgerlichen Medien in
Deutschland medial inszeniert und flankiert wird und die im engen Zusammenhang
mit den aktuellen und langfristigen Zielen des deutschen Imperialismus steht.
1. Die nachfolgende Analyse von Sarrazins
Aufforderung zum „Gürtel-enger-schnallen“
und zur Zwangsarbeit von Hartz-IV-Betroffenen
hat eine eigenständige Bedeutung.
Diese Angriffsfront muß eigenständig analy-
siert werden, auch wenn – oder besser: gerade
weil – sich der hervorstechende demagogische
Teil seines Buches mit rassistischen Ausfällen
in verschiedenen Varianten gegen „Nicht-Deut-
sche“, gegen Menschen aus bestimmten Regi-
onen (Türkei, arabische Region, Afrika) mit
nicht-christlicher Religion (Islam) richtet.
2. Es gilt aufzuzeigen, daß und wie Sarrazin
und Co. gegen Hartz-IV-Betroffene hetzt, weil
es wichtig ist, auch diesem Teil der Arbeiter-
klasse deutlich vor Augen zu führen, daß die ras-
sistischen, nationalistischen Kampagnen
durchaus auch an jene gerichtet sind, die für po-
gromartige Auseinandersetzungen gewonnen
werden sollen.
Es wäre grob fahrlässig und unverantwortlich,
wenn im Kampf gegen Pogromhetzer à la Sar-
razin auf gewerkschaftlicher, demokratischer
Ebene darauf verzichtet würde, dieser Kampa-
gne gegen Hartz-IV-Betroffene etwas entgegen-
zusetzen. Entscheidend wird dabei sein, Sar-
razins Feldzug gegen Hartz-IV-Betroffene
als wesentlichen Punkt, aber nicht als den
zentralen Punkt zurückzuweisen.
3. Es gibt einen hochinteressanten und wich-
tigen logischen Zusammenhang zwischen der
Einteilung der Menschen in „höherwerti-
ge und minderwertige Rassen“ einerseits
und einer allgemeinen genetischen Eintei-
lung der Menschen überhaupt in „reiche
Die Grundposition von Sarrazin und Co. ist
so einfach und wirksam wie falsch: Eigentlich
sei alles, so wie es ist, weitgehend „logisch“.
Die „klügeren Völker“ hätten „logischerweise“
die „Dümmeren“ unterdrückt und kolonialisiert.
Und in Deutschland seien die Oberen diejeni-
gen, die Geld und Macht haben, ja nicht zufäl-
lig oben, sondern eben deshalb, weil sie angeb-
lich schlauer, cleverer, besser seien. Das hat al-
les seine gute Ordnung bei Sarrazin und Co.
Unsere Kernthese ist, daß hier die Widerlegung
anfangen muß. Diese zutiefst reaktionäre
Grundauffassung von Geschichte und Gesell-
schaft muß angegangen werden.
Sarrazin lenkt nun die Aufmerksamkeit auf
sein Gefahrenszenario, weil durch eine Reihe
von Umständen und Maßnahmen die angeblich
„Dummen“ zu Sarrazins Bedauern weltweit und
in Deutschland die Mehrheit bilden und sich
auch noch weiter vermehren. Diesem Spuk
müsse endlich einmal ein Ende bereitet wer-
den.
Dafür wird nun zunächst gegen Hartz-IV-Be-
troffene, gegen „die Unterschicht“ ein Pro-
gramm der „Gefahrenabwehr“ entwickelt.
4. Bevor wir auf dieses Programm im einzel-
nen eingehen, sei noch einmal in aller Klarheit
festgehalten: Biologismus, Genetik und Rassis-
mus bei Sarrazin und Co. sind ideologische Waf-
fen nicht nur gegen die verschiedensten Feinde
der „oberen 10.000“ in Deutschland.
Es ist auch ein Programm der Mobilma-
chung, ein Programm des „Deutschland er-
wache!“ im Interesse der „oberen 10.000“, die
sich gegen den Ansturm der Mehrheit rüsten
müssen, damit der Plan von der Weltmacht
Deutschland nicht an der Zerrissenheit und Un-
entschlossenheit der „oberen 10.000“ selbst zu
Grunde geht.
Dieses sozusagen positive Programm ist es
auch, wofür Sarrazin vehementes Lob selbst von
den Kritikern erhält, denen Sarrazins Paralle-
len zur Nazi-Ideologie in manchen Details eher
peinlich sind. Es wird also darauf ankommen,
in weiten Teilen unserer Analyse neben der Ent-
larvung und Bekämpfung der Attacken gegen
die sogenannten „Gegner und Feinde Deutsch-
lands, die Deutschland zersetzen und kaputtma-
chen“, das Augenmerk auf die deutsche Her-
renmenschenideologie der Aufzucht und „Auf-
nordung“ der „oberen 10.000“ und darüber hi-
naus zu richten.
5. Nun zu Sarrazins reaktionären Attacken ge-
gen die Hartz-IV-Betroffenen.
Ein Grundmuster zieht sich dabei durch Sar-
razins Lügenargumentation: Ursache und Wir-
kung werden vertauscht nach der alten Ma-
nier der herrschenden Klasse, Menschen in
Elend und Dreck zu stoßen, um sich dann
darüber lustig zu machen, daß sie dreckig wer-
den und verelenden.
Aber auch hier droht eine Falle: Es ist im Ein-
zelnen schwierig festzumachen, inwieweit hin-
ter Tatsachenfeststellungen Beleidigungen ste-
cken, selbst wenn die Tatsachen richtig sind, und
inwieweit Tatsachen direkt verfälscht werden,
um zu beleidigen und zu diskriminieren.
6. Ohne uns in Nebensächlichkeiten zu ver-
lieren oder uns in der Fülle von Sarrazins Pro-
vokationen zu verlieren, ergibt sich unserer
Meinung nach folgendes Bild:
Der alles entscheidende und überragende
Punkt ist Sarrazins brutale Forderung nach
konsequentem Arbeitszwang für Hartz-IV-
Betroffene. Das ist das Ziel und zentrale An-
liegen Sarazins. Alle anderen Punkte, die Sar-
razin gegen Hartz-IV-Betroffene vorbringt,
dienen im Grunde diesem Ziel.
Um sein Programm zu begründen, führt Sar-
razin drei wesentliche Lügenargumente ins
Feld:
Lügenargument Nr. 1:
Die Millionen „Carola Goetzes“
seien die Ursache der
Erwerbslosigkeit
Sarrazin berichtet von einer Erwerbslosen na-
mens Carola Goetze, die bereits sechs Job-An-
gebote erhalten hatte und frecherweise keines
der Angebote annehmen „wollte“, weil sie „ar-
beitsunwillig“ sei. Er schlußfolgert:
„Es gibt Millionen Carola Goetzes im Sys-
tem“ (S. 176)
Will heißen: Die Erwerbslosigkeit in Deutsch-
land hat angeblich nichts mit der Struktur der
Gesellschaft oder gar mit Kapitalismus zu tun.
Ursache sei vielmehr die Mentalität der „Fau-
len“, der „Arbeitsunwillgen“. Sarrazins millio-
nenfach widerlegte Grundthese lautet: Wer ar-
beiten will, findet Arbeit.
Finanzielle Armut von Hartz-IV-Betroffenen
gebe es nicht, der Hartz-IV-Regelsatz reiche zum
Leben durchaus aus (S. 115) – was Sarrazin im
übrigen im „Selbstversuch“ bewiesen habe – da
bestehe sogar noch Kürzungspotential.
Vielmehr attestiert er den Hartz-IV-Betrof-
fenen „geistige und moralische Armut“ (S.
123) und übergießt sie mit Beschimpfungen
(wie etwa, sie würden ihre Kinder vernachläs-
sigen, sie würden trinken und saufen, anstatt
ihre Kinder anständig zu ernähren usw. usf.).
Er fordert:
„Bekämpft werden muß dagegen die ‘Ar-
mut im Geiste‘, das heißt jene Kombination
aus Bildungsferne, Sozialisationsdefiziten
sowie Mangel an Gestaltungsehrgeiz und
Lebensenergie, der große Teile der Unter-
schicht in Deutschland prägt.“ (S. 132)
Statt eines Armutsproblems gebe es, so Sar-
razin, in Deutschland ein „Verhaltenspro-
blem“ (S. 119): Würden sich die Betroffenen
entsprechend „verhalten“, wären sie auch nicht
arm.
Lügenargument Nr. 2:
Hartz IV und die Slums von
Bombay
Als zweites führt Sarrazin die Allerweltsbe-
hauptung ins Feld, daß es „den Leuten“ hier in
Deutschland noch viel zu gut gehe.
Dieses Argument wird – teils mit faulen Zah-
lenspielen (angeblich 322 Euro pro Kind mehr),
teils mit einer gut abgestimmten Palette von Be-
schimpfungen und Pauschalbehauptungen – va-
riiert.
Sarrazin untermauert seine Behauptung, daß
es den Leuten viel zu gut gehe, mit dem Ver-
weis auf die Lebensbedingungen in den Slums
von Bombay:
„Aus der Sicht der wirklich Armen in der Welt
liegt die deutsche Armutsrisikoschwelle in der
Nähe der fiktiven Millionärswelt und weit ent-
fernt von ihrer Wirklichkeit in den Slums von
Bombay oder Jakarta“ (S. 137).
Hartz-IV sei eine „Mindestabsicherung, ...
die im Weltmaßstab Reichtum“ bedeute
(S. 148).
Jede Arbeiterin, jeder Arbeiter kennt diesen
Trick nur zu gut, wenn es um Löhne oder Ar-
beitszeit geht. Sofort heben die Kapitalisten den
Finger und verweisen auf die Lage von Arbei-
terinnen und Arbeitern in anderen Ländern, die
noch weniger verdienen und noch länger arbei-
ten müssen. Die Tatsache, daß etwa ein armer
Mensch in Indien mit dem Hartz-IV-Satz aus
Deutschland möglicherweise als reich gelten
würde, ändert nichts an der Tatsache, daß eben
dieser Satz in Deutschland kaum genug zum
Leben reicht.
Lügenargument Nr. 3:
Kinderkriegen als
„lohnendes Geschäft“
Das dritte Lügenargument, das sich hier noch
gegen die Hartz-IV-Betroffenen richtet, aber im
Grunde schon überleitet zu seinem Biologismus
und Rassismus, ist die Behauptung, Kinderkrie-
gen sei für Hartz-IV-Betroffene ein „lohnendes
Geschäft“. Das Kindergeld, das Hartz-IV-Be-
troffene erhalten, sei
„ein maßgeblicher Grund dafür, daß die
Unterschicht deutlich mehr Kinder bekommt
als die mittlere und obere Schicht“ (S. 175)
Deshalb müssten insbesondere in diesem Be-
reich Zuwendungen für Unterschichts-Kinder
gekürzt und gestrichen werden.
„Nicht Kinder produzieren Armut, sondern
Transferempfänger produzieren Kinder“ (S.
149) und „Es liegt eine gewisse ökonomische
Logik darin, daß der Anteil der Kinder aus
Haushalten von Transferempfängern etwa dop-
pelt so hoch ist wie der Anteil der Transfer-
empfänger selbst“ (S. 149).
Ein Vorschlag, den die Repräsentanten des
deutschen Imperialismus bereits begeistert auf-
genommen haben und mit der Streichung des
Elterngeldes für Hartz-IV-Betroffenen in die Tat
umsetzen möchten.
Stellen wir zunächst einmal klar: Erwerbslo-
sigkeit ist ein gesamtgesellschaftliches Phäno-
men - die Folge zunehmender Überproduktion
(Überproduktion aus der Sicht der Kapitalisten
sind nicht verkaufbare Waren). Die Ursache für
diese Überproduktion ist eine im großen Maß-
stab nicht geplante Produktion und eine von Pro-
fitstreben – es geht um Maximalprofit heute –
geprägten Gesellschaftordnung, die Kapitalis-
mus genannt wird.
Erwerbslosigkeit selbst und drohende Er-
werbslosigkeit sind für den Kapitalismus ein
hervorragendes Instrumentarium, um den Lohn
der Noch-Beschäftigten zu drücken und um, wie
es Marx nannte, eine industrielle Reservearmee
zu schaffen, die, wenn es erforderlich ist, so-
fortigen Zugriff auf Lohnabhängige bietet.
Nachdem dies klargestellt ist, kann Sarrazin
und Co. zusätzlich (und insofern immanent)
entgegengehalten werden, daß rund 85 % der
Hartz-IV-Betroffenen überhaupt nicht die Chan-
ce und Möglichkeit haben, sich eine gewisse Zeit
dem Arbeitsstreß zu entziehen, da sie von mor-
gens bis abends in verschiedenen Beschäftigun-
gen eingebunden sind.
-
Von den ca. 4,9 Mio. Hartz-IV-Betroffenen
sind 29,3 % (darunter etwa sogenannte
„Aufstocker“ usw.) erwerbstätig. Ihr Ein-
kommen ist schlichtweg so niedrig, daß sie
sogenannte ergänzende Leistungen erhal-
ten, um ihr Leben trotz Arbeit fristen zu kön-
nen.
- Weitere 10,2 % sind in einer Ausbildung - 28,8 % – fast ausschließlich Frauen – kön-
und können von ihrem Ausbildungsentgelt nen wegen der Betreuung ihrer Kinder kei-
nicht leben. ner Erwerbstätigkeit nachgehen,
- 6,9 % pflegen ihre kranken oder behinder-
ten Angehörigen und
- 10,1 % absolvieren Umschulungsmaßnah-
men (Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für
Arbeit, 58. Jahrgang, Sondernummer 2, S. 23 und IAB-
Kurzbericht 15/2010, S. 3.)
D. h. alles, was Sarrazin aus dem Arsenal sei-
ner Beschimpfungen vorbringt, trifft also schon
rein formal überhaupt nur die restlichen 15 % –
obwohl es sich auch in Bezug auf diese 15 %
um Hetze, Lügen und Halbwahrheiten handelt.
Sarrazins Programm:
„Arbeitszwang
konsequent
durchsetzen“
Es war von vornehrein klar, daß Sarrazins Lü-
genargumente darauf ausgerichtet sind, sein
grundlegendes Anliegen, die konsequente
Durchsetzung von Arbeitszwang, plausibel er-
scheinen zu lassen.
Im Grunde geht es um Herrschaftssicherung.
Erwerbslosigkeit – so die Erfahrung der Kapi-
talisten – ist immer auch eine Quelle möglicher
Unruhen und Kämpfe, militanter Erhebungen
und Aufstände.
Wer nicht spurt, soll auch kein Geld erhalten.
Militärischer Gehorsam ist das Ziel. Keiner soll
es wagen aufzumucken und die Pläne der „obe-
ren 10.000“ zu stören oder zu durchkreuzen,
denn Deutschland als Weltmacht braucht ein ru-
higes Hinterland für die Umsetzung seiner im-
perialistischen Herrschaftspläne.
Hier muß strategisch daran gearbeitet werden
– und das tut Sarrazin –, um diese Massen zu
erfassen, zu kontrollieren und zu drillen, was er
auch relativ offen ausspricht:
„Es kann nicht ungerecht sein, alle er-
werbsfähigen Empfänger von Grundsicherung
zu einer Gegenleistung zu verpflichten. Dabei
kann zunächst dahingestelllt bleiben, wie pro-
duktiv diese Gegenleistung ist und ob sie
überhaupt produktiv ist. Entscheidend ist, daß
sie ausnahmslos eingefordert wird und die
Anforderungen in Bezug auf Pünktlichkeit,
Disziplin und Arbeitsbereitschaft dem regulä-
ren Arbeitsleben möglichst nahe kommen (...)
All diese wohltätigen Wirkungen werden je-
doch nur eintreten, wenn der Arbeitszwang
konsequent durchgesetzt wird, wobei die wirk-
samste Sanktion stets der sofortige Transfer-
entzug ist.“ (S. 182/183)
Deshalb fordert Sarrazin, die Leistungen von
Hartz-IV-Betroffenen drastisch zu kürzen:
„Der fraglos größte Anreiz zur Arbeits-
aufnahme läge in einer Absenkung der
Grundsicherung.“ (S. 178)
Kürzungen um 30 % hält er für richtig. Aber
an seinen Ausführungen kann man schon erken-
nen, daß das erst der Anfang ist. Er erwähnt Vor-
schläge, die den Regelsatz ganz streichen wol-
len und nur noch die Kosten für Heizung und
Unterkunft vorsehen. Demagogisch verweist er
darauf, wie „milde“ dagegen sein Kürzungsvor-
schlag von 30 % sei.(S. 178)
Fakt ist: Allein 2009 wurden nach offiziellen
Zahlen der Bundesagentur für Arbeit insgesamt
732.648 Sanktionen gegen Hartz-IV-Betroffe-
ne verhängt. Solche Sanktionen bedeuten Kür-
zungen von Geldern bis hin zum vollständigen
Entzug, je nachdem, was sich jemand angeb-
lich hat zu schulden kommen lassen.(Amtliche
Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, 58.
Jahrgang, Sondernummer 2, Arbeitsmarkt 2009,
S. 109). Es wurde ein ausgeklügeltes Bespitze-
lungssystem installiert mit „Zeugenbefragun-
gen“, „Hausbesuchen“ bis hin zur Observation,
um angeblichen Leistungsmißbrauch aufzude-
cken.
Wer nicht auf große (und richtige) und abge-
nutzt scheinende Begriffe verzichten will, kann
und sollte hier durchaus den Zusammenhang zu
einer Faschisierung und Militarisierung her-
stellen.
Und hier zeigt sich auch, daß das, was als
Weitblick und Vision von Sarrazin bei sei-
nen Bewunderern und Scheinkritikern her-
vorgehoben wird, in der Tat etwas mit vor-
beugender Revoltenbekämpfung zu tun hat.
Denn Deutschland droht Gefahr, Gefahr
von unten, Gefahr selbst von der deutschen
Unterschicht, von Hartz-IV-Betroffenen, die
mit Kürzungen von Geldern, Repression
und Arbeitszwang geknebelt und „diszipli-
niert“ werden müssen. Und die nur dann die
Fesseln gelockert bekommen, wenn man sie
gegen die ganz unten, gegen Menschen aus
anderen Regionen aufhetzen und einsetzen
will.
Sarrazins anti-islamische und
anti-muslimische Hetze
in der Pose des
deutschen Herrenmenschen
Zum Hauptangriffsziel hat Sarrazin diejenigen auserkoren, die in seiner Hierarchie
noch unter den deutschen Hartz-IV-Empfängern stehen: Deutschlands eigentliches Pro-
blem seien „die Ausländer“, das „Unterschichtsproblem“ sei ein „Migrantenproblem“.
„Deutschland schaden“ laut Sarrazin vor allem Einwanderer aus arabischen Ländern.
Er macht muslimische Migrantinnen und Migranten verächtlich und beschimpft sie
aufs Übelste und stellt für sie in der Pose des deutschen Herrenmenschen ein Programm
aus Arbeitszwang, Zwangseindeutschung und Zuwanderungsstop auf.
Jedoch muß bewußt sein: Bei der Sarrazin-Debatte geht es nicht um Sarrazin als Ein-
zelperson. Vielmehr geht es um den Vormarsch einer reaktionären Ideologie, die von
bürgerlichen Medien in Deutschland inszeniert und flankiert wird und die im engen
Zusammenhang mit den aktuellen und langfristigen Zielen des deutschen Imperialis-
mus steht.
Sarrazins
anti-islamische und
anti-muslimische Hetze
Sarrazin hat in einem Dreiklang von Religion (Is-
lam), Region (arabische Länder) und „Rasse“ musli-
mische Migrantinnen und Migranten als Minderheit
zu seiner Hauptzielscheibe auserkoren:
„Die Zuwanderer aus dem ehemaligen Jugos-
lawien, der Türkei und den arabischen Län-
dern bilden den Kern des Integrationspro-
blems.“ (S. 59).
Im Tonfall des deutschen Herrenmenschen stellt
Sarrazin zunächst ein Herkunfts-Ranking für Aus-
länder auf (Osteuropäer, so Sarrazin, seien etwa
„sehr sprachbegabt“, Asiaten „wirtschaftlich leis-
tungsfähig“, S. 59) und beschimpft Muslime dann
auf übelste Weise: Er bezeichnet muslimische Frau-
en verächtlich als „Importbräute“ (S. 289) und
behauptet, Muslime seien kriminell und würden „von
Hartz IV leben“ (S. 292), seien Nichtsnutze, die kei-
nen „wirtschaftlichen Mehrwehrt erbringen“
(S. 267), würden Deutschland sozusagen schon mit
ihrer Geburt schaden durch „enorme Fruchtbar-
keit“ (S. 267) usw. Schließlich bringt er seine An-
griffspunkte gegen Islam und Muslime folgendermaßen
auf den Punkt:
„Keine andere Religion in Europa tritt so for-
dernd auf. Keine andere Immigration ist so stark
wie die muslimische mit Inanspruchnahme des So-
zialstaats und der Kriminalität verbunden. Keine
Gruppe betont in der Öffentlichkeit so sehr ihre
Andersartigkeit, insbesondere durch die Kleidung
der Frauen. Bei keiner anderen Religion ist der
Übergang zu Gewalt, Diktatur und Terrorismus
so fließend.“ (S. 292)
Lassen wir einmal beiseite, daß in Deutschland
längst nicht alle Muslime Einwanderer sind, daß
es hier Muslime mit und ohne deutschen Paß gibt,
und daß es unter Migrantinnen und Migranten aus
Herkunftsländern „mit vorwiegend muslimischem
Glauben“ auch jüdische, christliche und andere
Gläubige oder Atheisten gibt, die Sarrazin in seinem
Buch allesamt unter den Tisch fallen läßt. Schauen
wir uns im Folgenden seine provokativen Lügenbe-
hauptung Satz für Satz genau an.
Lügenhetze Nr. 1:
Keine Religion sei
so „fordernd“ wie der Islam
„Keine andere Religion in Europa tritt so for-
dernd auf“ erklärt Sarrazin zum Islam als Religi-
on und hier wird bereits sichtbar, daß sein Koordi-
natensystem völlig verrutscht ist: Gibt es denn in
Deutschland „etwas Fordernderes“ als die „christ-
lich-abendländische Leitkultur“?
Wie „fordernd“ sie in Deutschland auftritt und
den Alltag dominiert, wird schnell ersichtlich, wenn
wir uns vor Augen halten, wie die christlichen
Kreuz-Träger aufjaulen und behaupten, „die Zeit
sei noch nicht reif für die Gleichberechtigung des
Islam in Deutschland“, sobald Muslime ihr Recht
auf Religionsfreiheit in Anspruch nehmen wollen. Halten
wir uns vor Augen, daß beispielsweise „unsere“ Zeit-
rechnung mit dem angeblichen Geburtstag von Jesus
beginnt, daß „neutestamentarische“ Redewendungen
wie „ein Kreuz auf sich nehmen“ zum allgemeinen
Sprachgebrauch gehören, Kreuze und Marienbilder
in Kindergärten, Schulen und Krankenhäusern ganz
selbstverständlich hängen, ganz zu schweigen vom
sonntäglichen „Ruhetag“ und den christlichen Feier-
tagen bis hin zu Bundeswehrkasernen mit ihren Mili-
tärpfarrern, die direkt „vor Ort“ die Kriegseinsätze
des deutschen Imperialismus betreuen und die „Mo-
ral“ der Bundeswehrsoldaten heben.
Diese Indoktrinierung mit den Werten der
„christlich-abendländischen Kultur“ durch-
dringt den ganzen Alltag in Deutschland. Die „An-
dersgläubigen“ haben sich gefälligst den christli-
chen Herrenmenschen anzupassen. Wenn sie das
nicht tun, an ihrem Glauben festhalten, die einfachs-
ten Grundsätze der Gleichbehandlung der Religio-
nen einfordern, gelten sie als „fordernd“, werden
verachtet, gegängelt und schikaniert.
Wenn dann eine muslimische Frau auch an ihrer
Arbeitsstelle ein Kopftuch tragen möchte, empören
sich die christlichen-deutschen Frauenfreunde und
wenn die Frau etwa Lehrerin ist, wird sogar mit Be-
rufsverbot gedroht. Wenn muslimische Gläubige – wie
es für Christen und ihre Kirchen selbstverständlich
ist – eine Moschee bauen möchten, die vielleicht noch
höher ist als die christliche Kirche im Ort? Das ist
dann unerträglich für die deutschen Herrenmenschen.
Ein Muezzin, der in Deutschland laut zum islamischen
Freitagsgebet ruft? Das schmerzt das Ohr der deut-
schen Christenheit, die das penetrante sonntägliche
Kirchengeläute überhört.
Lügenhetze Nr. 2:
„Stärkste Inanspruchnahme des
Sozialstaats und der Kriminalität“
durch muslimische Migrantinnen
und Migranten
„Keine andere Immigration ist so stark wie die
muslimische mit Inanspruchnahme des Sozial-
staats und der Kriminalität verbunden.“ Nun
wechselt Sarrazin die Ebene und geht vom Islam
zum Angriff auf muslimische Migrantinnen und
Migranten über. Ob es angebliche religiöse, kul-
turelle oder rassistische Merkmale sind, die mus-
limische Migranten in den Augen der deutschen
Herrenmenschen kennzeichnen, ändert sich von Fall
zu Fall. Mal richtet sich ihre Hetze gegen den Islam
als Religion, mal gegen Gläubige einer als minder-
wertig oder rückschrittlich dargestellten Religion, mal
gegen Muslime als kulturell fremdartig, mal gegen
Muslime als rassistisch abgrenzbare Gruppierung, mal
gegen Muslime als soziale Unterschicht, mal gegen
Muslime als „Terroristen“. Diese Formen der Dis-
kriminierung und Verhetzung stimmen jedoch darin
überein: Muslime werden als Minderheit in Deutsch-
land vermeintliche kollektive negative wesenhafte Ei-
genschaften zugeschrieben.
Vollkommen infam ist Sarrazins Vorwurf, muslimi-
sche Migranten seien besonders „kriminell“ und wür-
den besonders „von Hartz IV leben“. Damit soll wohl
angedeutet werden soll, daß sie angeblich faul und
deshalb erwerbslos seien. Infam, weil es eine Tatsa-
che ist, daß Migrantinnen und Migranten die schlech-
testen Jobs haben und als erste entlassen werden.
So können sie es den deutschen Herrenmenschen
nicht recht machen: Wenn sie Arbeit haben wird ge-
tönt, daß „Ausländer den Deutschen die Arbeit weg-
nehmen“. Wenn sie erwerbslos sind wird getönt, sie
wären faul und „liegen den Deutschen auf der Ta-
sche.“
Sarrazins Zahlenakrobatik, Pauschalisierungen und
auch einfach dreiste Lügen, um zu „belegen“, daß
Muslime kriminell seien und von Hartz-IV leben
würden, ist erfreulicherweise von einigen bürgerlichen
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sehr de-
tailreich widerlegt worden (etwa Naika Foroutan in
ihrer Untersuchung „Sarrazins Thesen auf dem Prüf-
stand. Ein empirischer Gegenentwurf zu Thilo Sar-
razins Thesen zu Muslimen in Deutschland“ , De-
zember 2010; siehe etwa S. 25 zu Sarrazins Behaup-
tung 30 % der Muslime hätten keinen Schulabschluß
oder seine Behauptung ohne jeglichen Beleg, daß „in
Berlin 20 Prozent aller Gewalttaten von nur 1.000
türkischen und arabischen Tätern begangen“ wor-
den seien).
So richtig es ist, nachzuweisen, daß und wie Sar-
razin lügt, daß ihm nachgewiesen wird, wo er schein-
wissenschaftlich agiert und manipuliert, so wichtig ist
es aber gleichzeitig klarzustellen, daß wir uns nicht
mit Sarrazin und Co. auf eine Diskussion einlassen,
ob muslimische Migranten nun „bildungsunwilliger“,
„krimineller“, „gewalttätiger“ usw. seien als Deutsche
oder gar als andere Einwanderergruppen. Wir müs-
sen klarstellen, daß uns diese Zahlen nicht pri-
mär interessieren, denn sie können sogar ab-
lenken und sie ändern rein gar nichts am prinzi-
piellen banalen demokratischen Recht einer
Minderheit, ihren Glauben oder ihre Kultur
auszuüben, und an ihrem Recht, nicht beleidigt
zu werden.
Die Journalistin Aylin Selcuk bringt das sehr präg-
nant auf den Punkt:
„,Sie sind ein Hurensohn!‘ Man stelle sich vor,
ich würde zum Beispiel bei einer Redaktionssit-
zung des Spiegel einen Redakteur derart anspre-
chen. Wie würden zu dieser Äußerung am nächs-
ten Tag die Schlagzeilen lauten? Vielleicht so: ‚Tür-
kin beleidigt Spiegel-Redakteur‘, oder auch: ‚Mus-
limin greift Menschenwürde von Journalisten an.‘
Würde irgend jemand auch nur auf die Idee kom-
men, darüber nachzudenken, ob dieser Redak-
teur wirklich Sohn einer Hure sein könnte? Wür-
de man Statistiken darüber erheben, mit welcher
Wahrscheinlichkeit es zutreffen könnte, daß ge-
rade dieser Redakteur Sohn einer Hure ist? Wür-
de man wild über die Definition des Begriffs Hure
recherchieren? Wohl kaum. Da stelle ich mir nun
die Frage: Wieso überlegt man bei den Thesen
des Herrn Sarrazin als erstes, ob er recht hat?“
(Aylin Selcuk, „Menschenwürde muß man nicht verdienen“,
in: Sezgin, Hilal, „Manifest der Vielen. Deutschland erfindet
sich neu“, Berlin 2011, S. 64)
Lügenhetze Nr. 3:
Muslime seien so unverschämt,
in der Öffentlichkeit
ihre „Andersartigkeit zu betonen“
„Keine Gruppe betont in der Öffentlichkeit so
sehr ihre Andersartigkeit, insbesondere durch die
Kleidung der Frauen.“ Jedem und jeder fallen hier
auf Anhieb zahlreiche „Gruppen“ ein, die in der Öf-
fentlichkeit ihre Gruppenzugehörigkeit betonen: Bun-
deswehrsoldatinnen, Polizistinnen, Stewardessen.
Und auch Kopftuch ist nicht gleich Kopftuch: Ist die
Kopftuchträgerin eine Nonne oder vielleicht eine
deutsche Bäuerin? All das ist für Sarrazin etwas ganz
anderes, denn es „gehört zu Deutschland“. Doch
wenn dieses Kopftuch eine muslimische Frau trägt,
ereifern sich die Sarrazin und Co. Das muslimische
Kopftuch gilt ihnen als Symbol einer „primitiven isla-
mischen“ Kultur schlechthin. Diese reaktionäre
Grundmentalität wird oft genug vom deutschen Ma-
cho durch scheinbar fortschrittliche Argumente ge-
gen „Frauenunterdrückung“ kaschiert. Die christlich-
kulturellen Täufer wehrloser kleiner Kinder beschwe-
ren sich über „religiösen Zwang“. Dabei ist es nicht
ohne Ironie, daß gerade diejenigen, die sich über
Kleidungsverbote in religiös verbrämten reaktionä-
ren Regimes wie dem Iran ereifern, ebenfalls Klei-
dungsverbote fordern. Sarrazins Aussage ist klar:
„Muslimisch-Sein“ ist für ihn das Gegenteil von
„Deutsch-Sein“. Muslime sind die „Andersartigen“
und die Grenzen ihrer Religionsfreiheit soll nicht be-
stimmt sein von den Grundsätzen der Religionsfrei-
heit, sondern vom „Empfinden“ der christlich-deut-
schen Herrenmenschen.
Lügenhetze Nr. 4:
Beim Islam sei der Übergang zu
„Gewalt, Diktatur
und Terrorismus“ fließend
„Bei keiner anderen Religion ist der Übergang
zu Gewalt, Diktatur und Terrorismus so fließend.“
Erneut wechselt Sarrazin die Ebene und holt zu ei-
nem Doppelschlag aus: Er spielt einerseits an auf die
religiöse Maskerade internationaler reaktionärer po-
litischer Kräfte und Regimes – und spekuliert dar-
auf, daß die Hysterie in den westlichen imperialisti-
schen Ländern über „islamistischen Terroristen“ in
den Köpfen ihre Wirkung zeigt –, andererseits soll
aber auch angedeutet werden, daß diese Ideologie
Muslime selbst „gewalttätig“ und „terroristisch“
macht.
Hier müssen wir mehrere Punkte klarstellen: Wenn
eine Religion für „Gewalt, Diktatur und Terro-
rismus“ steht, dann ja wohl die des „christlichen
Abendlands“. Das gilt ganz besonders für
Deutschland, wo es den herrschenden Klassen ge-
lungen ist, ihre Politik der Unterdrückung von Min-
derheiten zu kaschieren mit einer Ideologie des
„christlichen Abendlandes“ gegen Juden und Musli-
me. Diese herrschenden Klassen initiierten reaktio-
näre Massenbewegungen und Pogrome bis zum Völ-
kermord: Angefangen mit den christlichen Kreuzzü-
gen, die in Deutschland (damals noch im Sinne eines
geographischen Gebiets) gegen Juden und Muslime
zur „Befreiung des heiligen Landes Palästina“ began-
nen und nichts anderes waren als Plünderungs- und
Mordzüge, über die christlichen „Deutschritter“ des
Mittelalters mit ihren Eroberungszügen gegen die Völ-
ker Osteuropas, über die Verfolgung der Inquisition,
die durchaus nicht nur von der katholischen Kirche
betrieben wurde, bis hin zu christlichen Missionaren
im Nachtrab der deutschen Kolonialarmee in Afrika
oder China oder zu Aufrufen von den Kanzeln der
beiden deutschen Staatskirchen, für „Gott und Kai-
ser“ in den Ersten Weltkrieg zu ziehen, bis hin zur
Duldung und tatkräftigen Unterstützung der nazi-fa-
schistischen Diktatur und des Nazi-Völkermords an
der jüdischen Bevölkerung und den Sinti und Roma
Europas, propagandistisch flankiert von den beiden
deutschen Staatskirchen.
Und wie sieht es heute aus in Deutschland?
Von einer – grundsätzlich zu fordernden – voll-
ständigen Trennung von Staat und Kirche in al-
len Aspekten und Lebensbereichen kann keine
Rede sein. Faktisch gibt es eine evangelische
und katholische Staatskirche. Keinesfalls
gleichberechtigt dazu sind muslimische Gemein-
schaften allerdings auch heute nicht als „Kör-
perschaften des öffentliches Rechts“ anerkannt
und es werden ihnen somit zahlreiche staatli-
che Privilegien (von der Erhebung von Kirchen-
steuern bis hin zur Mitsprache in Rundfunkrä-
ten) verwehrt. Während Kruzifixe an Schulen
und in Krankenhäusern die „christlich-abend-
ländische Leitkultur“ verkörpern, während Leh-
rerinnen mit Kreuz um den Hals und verschlei-
erte Nonnen als beamtete Lehrerinnen zur
„christlichen Tradition“ in Deutschland gehö-
ren, wurde ab 2004 in acht von 16 Bundeslän-
dern für muslimische Lehrerinnen, die ein
Kopftuch tragen, faktisch ein Berufsverbot er-
lassen. Einem muslimischen Schüler eines Ber-
liner Gymnasiums wurde 2010 höchstrichterlich
das Beten in der Unterrichtspause verboten.
Doch es geht nicht nur darum, daß Deutsch-
land 2011 von einer Gleichberechtigung der
Religionen meilenweit entfernt ist. Es geht vor
allem darum, daß diese christlich-deutsche
abendländische Kultur untrennbar verknüpft ist
mit deutsch-chauvinistischer Diskriminierung
und Unterdrückung. Die Lage von Muslimen in
Deutschland ist seit 2001 insbesondere durch
die immer wieder entfachte „Integrationsdebat-
te“ und besonders seit der Sarrazin-Debatte be-
drohlicher und gefährlicher geworden.
Muslime werden terrorisiert und schikaniert
durch gesetzliche Verordnungen, durch polizei-
liche Stürmung von Gebetshäusern, durch „Ein-
bürgerungstests“ wie etwa die Fragen des 2005
in Baden-Württemberg eingeführten sogenannten
„Muslim-Tests“, einem Fragenkatalog der Einbürge-
rungsbehörden für Gespräche mit „Anwärtern“ auf
die deutsche Staatsbürgerschaft. Muslimische Mig-
rantin, muslimischer Migrant in Deutschland zu sein,
ist eben keine persönliche Angelegenheit der Religi-
onszugehörigkeit. Es wächst der Bekenntnisdruck
und der Vorwurf, sich nicht eindeutig abzugrenzen –
mal vom „Terrorismus“, dann vom „Islamismus“, vom
Kopftuch usw. Das ist so als würde jedem christli-
ch-deutschen Mann als allererstes mal ein Bekennt-
nis gegen Pädophilie abverlangt.
In den bürgerlichen Medien aller Couleur wird
gegen Muslime und den Islam gehetzt, in Fern-
seh-Talkshows wird à la „Mit Muslimen auf der Schul-
bank – Zumutung oder Chance?“ das Spektrum des
„Diskutablen“ Schritt für Schritt erweitert. Ansonsten
werden individuelle Muslime in den bürgerlichen
Medien nur wahrgenommen, wenn sie entweder er-
folgreiche Fußballspieler sind oder muslimische Co-
medians, die sich über Muslime lustig machen dür-
fen, oder wenn es sich um muslimische Islamkritiker
handelt, die als Kronzeugen vorgeführt werden, um
den Islam zu kritisieren.
Als Individuen, als Menschen, die nicht ständig als
Mitglied einer bestimmten Religion adressiert wer-
den möchten, die selbst bestimmen möchten, in wel-
chem Zusammenhang die eigene Relgionszugehörig-
keit von Bedeutung ist oder nicht, werden sie von
den christlich-deutschen Herrenmenschen nicht
wahrgenommen.
Diese reaktionäre, teilweise hysterische Grund-
stimmung wird systematisch ergänzt durch Pro-
paganda der Nazis, durch organisierte Nazi-
Überfälle auf islamische Einrichtungen bis hin
zu Nazi-Morden an Muslimen, die der deutsche
Staat vertuscht durch die Weigerung, Angriffe mit
muslimfeindlichem Hintergrund in seinen Statis-
tiken gesondert aufzuführen.
So ermordete am 1. Juni 2009 ein Nazi inmitten
eines deutschen Gerichtssaals die aus Ägypten stam-
mende Marwa El Sherbini durch gezielte Messersti-
che. Ihr Mann, der seine schwangere Frau schützen
wollte, wurde von dem Nazi lebensgefährlich ver-
letzt. Ein Polizist schoß sogar „aus Versehen“ auf den
Ehemann der Ermordeten und verletzte ihn erheb-
lich. Dem Prozeß vorausgegangen war eine Anzeige
von Marwa El Sherbini gegen den Nazi, der sie we-
gen ihres Kopftuchs rassistisch beleidigt hatte. Der
Nazi hatte u. a. geäußert, daß „nichteuropäische
Rassen“ kein Recht hätten, in Deutschland zu leben.
In den bürgerlichen Medien hieß es verharmlosend
über den rassistischen Mord, daß es sich um die Tat
eines Einzeltäters gehandelt habe. Tatsächlich hatte
der Nazi-Mörder vor seiner Mordtat noch im Ver-
handlungssaal erklärt: „Haben Sie überhaupt ein
Recht, in Deutschland zu sein?“ und: „Wenn die NPD
an die Macht kommt, ist damit Schluß. Ich habe NPD
gewählt“ (Junge Welt, 9.7.2009). Dieser Mord war
eben nicht das Verbrechen eines Einzeltäters, son-
dern steht im engen Zusammenhang mit dem Vor-
marsch der Nazis in Deutschland, mit der keineswegs
nur von Nazis betriebenen anti-muslimischen rassis-
tischen Hetze und der staatlichen Diskriminierungs-
politik.
Sarrazin – das ist in diesem Zusammenhang auch
von Bedeutung – wirbt in seinem Buch um Verständnis
für den Nazi-Terror, den er als „Aggressionen der
autochtonen Mehrheitsbevölkerung gegen die
fremde Bevölkerungsgruppe“ (S. 265) bezeichnet.
Auf der Grundlage dieser massenhaften Feind-
lichkeit gegenüber Muslimen entfaltet nun die
muslimfeindliche Ideologie in den Köpfen der
breiten Massen ihre Wirkung. Aus den seit 2002
jährlich durchgeführten Untersuchungen zur „grup-
penbezogenen Menschenfeindlichkeit in Deutsch-
land“ des Sozialwissenschaftlers Heitmeyer geht
hervor, daß die Verachtung von Muslimen über sie-
ben Jahre lang relativ stabil bei 25 % lag. Die Unter-
suchung von 2010 ergab, daß nun rund 52 % der
Deutschen die Ansicht vertreten, daß „der Islam eine
Religion der Intoleranz“ sei. 46 % stimmten der Be-
hauptung zu, es gebe „zu viele Muslime“ in Deutsch-
land. (Untersuchung „Group-Focused Enmity in Eu-
rope“ Zick Andreas; Küpper, Beate; Wolf, Hinna:
„Wie feindselig ist Europa. Ausmaß Gruppenbezo-
gener Menschenfeindlichkeit in acht Ländern“. In:
Heitmeyer, Wilhelm, Deutsche Zustände. Folge 9,
Berlin 2010, S. 50). Ähnlich auch die Ergebnisse der
monatlichen Hauptbefragung von Allensbach von
Ende September 2010: 55 % der Befragten stimm-
ten der Aussage zu, daß Einwanderung von muslimi-
schen Migranten „Deutschland schadet“. (FR,
1.10.2010)
Bevölkerungsgruppen aufgrund ihrer Religion
oder Nationalität verächtlich zu machen, zu dis-
kriminieren und zu verfolgen, hat in der deutschen
Geschichte eine mörderische Tradition. Vor die-
sem Hintergrund kommt die anti-muslimische Het-
ze von Sarrazin und Co. „religiös“ und „kultu-
rell“ kaschiert daher. In einem Interview mit ei-
nem seiner Verteidiger in einer Sonderausgabe der
„tageszeitung“ erklärte Sarrazin, daß er auf Anra-
ten seines Verlages „in einer Spätphase“ der Ar-
beit am Manuskript das Wort „Rasse“ überall
durch „Ethnie“ ersetzt hat. Auch wenn es Sarrazin
aus Opportunitätsgründen vermeidet, den Begriff
„Rasse“ direkt zu verwenden und bei seiner Dar-
stellung der Vererbung Verrenkungen mit Verglei-
chen zur „Hunde- oder Pferdezucht“ macht, um
„Unterschiede im Temperament und im Bega-
bungsprofil“ (S. 92) zu begründen, auch wenn er
seine rassistischen Beschimpfungen von Muslimen als
„religiös-kulturelle“ Eigenheiten einer „Ethnie“ ka-
schiert, ist klar. Das ist biologistisch-rassistisch.
Sarrazins Programm:
Anti-muslimische Hetze,
Zwangseindeutschung
und Zuwanderungsstop
Sarrazin zeichnet ein in seinem Denken schreckli-
ches Szenario über die „Zukunft Deutschlands“: Deut-
sche werden sich vorkommen „wie Fremde im ei-
genen Land“ (S. 300). „Wer wird in 100 Jahren
‚Wanderers Nachtlied‘ noch kennen? Der Koran-
schüler in der Moschee nebenan wohl nicht“
(S. 393). Er beschwört das „westliche Abendland“,
das durch muslimische Einwanderer unterzugehen
drohe (S. 266). Damit schürt er – wie jeder Dema-
goge – Ängste, damit „Deutschland erwache“. In die-
ser Pose ist nicht nur das im Goebbelschen Stil ge-
haltene indiskutable 9. Kapitel „Ein Traum oder Alb-
traum“ formuliert. Drei Maßnahmen schlägt Sarrazin
vor, um „Deutschland zu retten“:
Arbeitszwang für die bereits in Deutschland le-
benden muslimische Migranten aus der Türkei oder
aus arabischen Ländern, die von Hartz IV leben müs-
sen: „Jeder Arbeitsfähige (gemeint ist Erwerbs-
lose, A.d.V) muß sich an gesetzlichen Arbeitsta-
gen zur festgesetzten Uhrzeit dort einfinden, wo
er eingeteilt ist. An Stelle gemeinnütziger Arbeit
treten bei jenen Migranten, die der deutschen
Sprache nicht ausreichend mächtig sind, Sprach-
kurse.“ (S. 328)
Zwangseindeutschung der bereits in Deutschland
lebenden Muslime: „Aber wir wollen keine natio-
nalen Minderheiten. Wer Türke oder Araber blei-
ben will und dies auch für seine Kinder möchte,
der ist in seinem Herkunftsland besser aufgeho-
ben.“ (S. 326). Mit dem Zungenschlag des techno-
kratischen Herrenmenschen erklärt er: „Verkehrs-
sprache im Kindergarten ist Deutsch ... Wie in
Frankreich wird das Kopftuch untersagt ... Der
zuziehende Ehegatte hat für zehn Jahre keinen An-
spruch auf Grundsicherung.“ (S. 328).
Und schließlich fordert er Zuwanderungsstop
für muslimische Migrantinnen und Migranten:
„Die einzig sinnvolle Handlungsperspektive kann
daher nur sein, weitere Zuwanderung aus dem Na-
hen und Mittleren Osten sowie aus Afrika weitge-
hend zu unterbinden.“ (S. 372)
Wozu dient Sarrazins
anti-muslimische Hetze?
Diese Hetze soll Migrantinnen und Migranten aus
arabischen Ländern ganz offiziell in Deutschland zu
Menschen 2. Klasse deklarieren, Ungerechtigkeiten
und Ungleichbehandlung auf den Behörden, in staat-
lichen Einrichtungen, am Arbeitsplatz legitimieren.
Darüber hinaus schaffen Verachtung und Hetze
gegen Muslime ein „Zusammengehörigkeitsge-
fühl“ der christlich-deutschen Bevölkerung, ein
völkisches „Wir Deutsche“ gegen „die Anderen“,
eine Bindung eines großen Teils der ausgebeute-
ten und unterdrückten Massen an ihre eigenen Aus-
beuter und Unterdrücker. Die von der herrschen-
den Klasse in Deutschland gut ausgebauten Pro-
pagandamaschinerien produzieren als Bindemit-
tel die Herrenmenschen-Ideologie mit ihrer
„christlich-abendländischen Leitkultur“, den
„deutschen Stolz“ auf gemeinsame Merkmale der
angeblich „Kultivierten“ und „Modernen“ gegen
die „Zurückgebliebenen“ und „Unkultivierten“.
Dabei geht es nicht allein um „negative Aus-
chlußkriterien“ des „Deutsch-Seins“. Die deutsche
Herrenmenschen-Ideologie enthält eben auch die
Möglichkeit, sich selbst als „besser“ und fort-
schrittlicher darzustellen. Insofern bietet die anti-
muslimische Hetze von Sarrazin und Co. Muniti-
on für die eigene Selbstgerechtigkeit und Schmei-
chelei: Frauenfeindlichkeit in Deutschland, das sei
ja wohl kein Problem der christlich-deutschen
Männer, sondern vor allem ein Problem der zu-
rückgebliebenen muslimischen Einwanderer, so
tönt es. Auch Homosexuellenfeindlichkeit wäre in
Deutschland längst überwunden, wenn nicht die
muslimischen Jugendlichen wären, heißt es wei-
ter. Und selbst für den Antisemitismus müssen musli-
mische Migrantinnen und Migranten herhalten, so als
ob dies nicht vor allem und in der Hauptsache ein
Problem der christlich-deutschen Bevölkerung wäre.
Auch wenn Sarrazin vor allem muslimische Mig-
rantinnen und Migranten zu seinem Angriffsziel aus-
erkoren hat, muß bewußt sein, daß die deutsche
Herrenmenschen-Ideologie viele Facetten hat. Mit
einer gewissen Willkür werden einzelne Bevölke-
rungsgruppen, die in Deutschland leben, herausge-
griffen und an den Pranger gestellt. Mal hat der An-
tiziganismus, die Hetze gegen Sinti und Roma, Kon-
junktur. Dann stehen antisemitische Stereotype, der
Haß gegen Juden, im Vordergrund. Danach wird Ko-
lonialrassismus gegen Menschen mit dunklerer Haut-
farbe zum Thema gemacht oder gegen Flüchtlinge
gehetzt.
Doch der Kern der deutschen Herrenmenschen-
Ideologie, des rassistischen deutschen Nationalismus
ist es gerade, über ein großes Arsenal von Feindbil-
dern zu verfügen, um dann mit einer Technik des
„Teile und Herrsche“ die deutsche Bevölkerung für
die herrschende Klasse gegen diesen oder jenen zum
„Feind“ Erklärten zu mobilisieren, an sich zu binden
und eine verbrecherische „Kameradschaft“ zwischen
der herrschenden Klasse und ihrer Anhängerschaft
in der Bevölkerung für Schikane, Drangsalierung und
Verachtung, für Raub, Mord und Totschlag zu be-
gründen. Insofern bietet Sarrazin mit seiner anti-mus-
limischen Hetze der deutschen „Unterschicht“, die
er keinen Deut weniger verachtet und drangsaliert,
einen Fußabtreter, um zu erreichen, daß diese „Un-
terschicht“ nach unten tritt – und nicht nach oben.
Die „genetisch Guten“ stehen zu Recht oben:
Eugenik, Herrenmenschenideologie
und Antikommunismus
In Verbindung mit seiner Hetze gegen Hartz-IV-Empfänger und seiner anti-islamischen
und anti-muslimischen Hetze entwickelt Sarrazin ein ganz bestimmtes pseudowissen-
schaftliches Fundament für sein extrem reaktionäres Gedankengebäude. Biologismus
und Sozialdarwinismus, Teils in neuen Formen, Teils als Rückgriff auf biologistisch-
rassistische Vorläufer der Nazis werden mobilisiert, um zu „begründen“, dass die Obe-
ren, die Geld und Macht haben, nicht zufällig oben seien, sondern wegen der „angebo-
renen Ungleichheit der Menschen“, weil sie von Geburt an angeblich schlauer, fleißiger
und besser seien als die große Masse der von Geburt an angeblich Dummen und Faulen.
Ebenso sei es „logisch“ und „natürlich“, dass die angeblich „klügeren Völker“ die an-
geblich „Dümmeren“ dominieren und kolonialisieren.
Diese biologistisch-genetische Argumentati-
on dient Sarrazin und seinen Anhängern dazu,
zwei grundlegende Verteidigungsstrategien zu
unterfüttern:
Erstens begründet Sarrazin so, warum der
Kommunismus unmöglich sei. Sein reaktionä-
res Menschenbild propagiert die alte antikom-
munistische Grundthese, dass aus biologisch-
genetischen Gründen angeblich nur eine kleine
Gruppe von Menschen wirklich qualifiziert zur
Führung der Gesellschaft befähigt sei. Die an-
geblich „besten“ und „klügsten“, die Reichen,
die Eliten, nicht zu vergessen die Banker, seien
daher „natürlich“ und angeblich „von Gott ge-
geben“ dazu bestimmt die Elite, die Oberschicht
zu bilden. Die große Masse, von „Natur aus
dumm“, angeblich „beschränkt und primitiv“ ha-
ben dieser Elite zu folgen und ihrer Bestimmung
gemäß für sie zu arbeiten. Hier konzentriert sich
die uralte Ideologie der Ausbeuter. So wurde die
Sklaverei begründet und verteidigt, so wurde die
Macht der Feudalherren begründet und verteidigt
und so wird heute die Realität des Kapitalismus
und Imperialismus begründet und verteidigt, an-
gereichert mit manchen modern klingenden Wör-
tern.
Zweitens wird diese Pseudo-Argumentation
auch zur Begründung und Verteidigung der ko-
lonialistischen und imperialistischen Herrenmen-
schenmoral verwendet. Das ist schon seit fast 600
Jahren, seit dem Entstehen des Kolonialismus so.
Seit der Entstehung des Imperialismus zu Beginn
des 20. Jahrhunderts, der Vorherrschaft einiger
weniger imperialistischer Großmächte, die die
Welt kolonial und neokolonial unter sich auftei-
len und beherrschen, wird diese Pseudo-Argu-
mentation mit gewissen Variationen weiter ver-
stärkt.
Es mag zunächst verblüffen, ist aber genau be-
trachtet kein wirklicher Widerspruch: Die Ideale
der bürgerlichen Revolution und der Aufklärung,
die grundlegende Idee von der Gleichberechti-
gung, den gleichen Rechten für alle Menschen
wurden mit der Entwicklung der bürgerlich-ka-
pitalistischen Gesellschaft zunehmend als bloß
formales Lippenbekenntnis verwendet. Diese Ide-
ale wurden zunehmend als Schutzschild für die
real existierende Ausbeutung und Unterdrückung
benutzt und zunehmend zur Vertuschung der real
existierenden Nicht-Gleichberechtigung einge-
setzt.
Es war Karl Marx, es war der wissenschaftli-
che Kommunismus, der diese formale Gleichbe-
rechtigung etwa der Arbeiterinnen und Arbeiter,
die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen und den
Kapitalisten, die diese Arbeitskraft kaufen, als
Fassade für die in der Realität existierende Klas-
sengesellschaft entlarvte und die Forderung ei-
ner wirklichen auch ökonomisch fundierten
Gleichberechtigung aller Menschen begründete
und entwickelte. Der wissenschaftliche Kommu-
nismus verschliesst dabei nicht die Augen vor
den notwendigen Zwischenschritten: Der wis-
senschaftliche Kommunismus propagiert und er-
klärt die notwendigen Klassenkämpfe und be-
waffneten Revolutionen sowie die notwendige
Unterdrückung der herrschenden Klasse nach
dem Sieg der Revolution.
Es ist also klar, dass bei einer genaueren Be-
trachtung von Sarrazins Thesen es gerade nicht
nur um Sarrazin geht, sondern seine biologis-
tisch-genetischen grundlegenden Behauptungen
ganz fest in der Ideologie des Kapitalismus, der
Ausbeutung und Unterdrückung verankert sind.
Bevor wir uns nachfolgend der kolonialis-
tisch-imperialistischen Herrenmenschenideolo-
gie zu wenden, macht es daher Sinn zunächst
seinen biologistisch-eugenischen Antikommu-
nismus zu behandeln.
Antikommunismus:
Armut ist „...grundsätzlich
unaufhebbar“: Die biologistische
These von den dummen oder
intelligenten Menschen
Ein zentraler Ausgangspunkt Sarrazins ist die
These von der „angeborenen Ungleichheit der
Menschen“ (S. 249). Die entscheidende Frage
ist hier: Wofür soll das relevant sein? Wer hat je
behauptet, dass alle Menschen gleich seien? Sar-
razin führt wie alle Demagogen einen Kampf
gegen Windmühlen. Dass der eine Mensch grö-
ßer ist als der andere, dass der eine Mensch eine
andere Nase oder andere Füße hat wie der ande-
re Mensch, diese angeborenen Merkmale sind in
Wirklichkeit doch völlig irrelevant, wenn es um
die Frage geht, warum es einen sich immer mehr
zuspitzenden sozialen und ökonomischen Ge-
gensatz zwischen den „oberen zehntausend“ und
der großen Masse „unten“ gibt.
Das weiß Sarrazin im Grunde auch und kon-
zentriert sich daher im Verlauf seiner Darstel-
lung auf die mit Penetranz wiederholte Behaup-
tung, dass es angebliche angeborene Unterschie-
de im Intelligenzgrad der Menschen gäbe, mit
der Pointe, dass dieser angeblich einmal existie-
rende Unterschied durch Bildung und Lernen auf
gar keinen Fall verändert werden könnte.
Deshalb heißt es bei Sarrazin: „Auch im bes-
ten Bildungssystem wird die angeborene Un-
gleichheit der Menschen durch Bildung nicht
verringert“ (S. 249). Er behauptet weiter: „Wer
schön oder intelligent ist, hat andere Chancen
als jemand, der hässlich oder dumm ist.“
(S. 129) Es gäbe eben, so Sarrazin, eine „gene-
tisch bedingte Variabilität der menschlichen
Anlagen“ und dazu gehörten eben auch „ange-
borene Unterschiede in der Bildungsfähigkeit“
(S. 213).
Nun könnte man sich den Spaß machen zu po-
lemisieren, dass nun gerade eine Figur wie Sar-
razin das Gegenteil beweist. Aber das trifft nicht
den Kern. Das Problem ist folgendes:
Die entscheidende Frage ist nicht, ob in einem
bestimmten Alter die einen Kinder schneller, die
anderen Kinder langsamer lernen. Die entschei-
dende Frage ist, ob sich das verändern lässt, wel-
che Belege und Beweise es dafür gibt, dass die
Möglichkeit aller Menschen sich zu entwickeln
und zu bilden eine ganz grosse nach oben offe-
ne Skala enthält oder nicht.
Im Mittelalter war es so, dass rund 95 Prozent
der Bevölkerung Analphabeten waren. Das lag
keineswegs an der Biologie dieser 95 Prozent,
sondern an den damals bestehenden gesellschaft-
lichen Verhältnissen. Die herrschenden Ideen,
welche die Ideen der herrschenden feudalen
Machthaber waren, besagten aber, dass es an-
geblich naturbedingt oder „gottgegeben“ sei,
dass nur 5 Prozent lesen und schreiben konn-
ten. Heute können in Deutschland 95 Prozent
lesen und schreiben. Das zeigt die Veränderlich-
keit, die Dehnbarkeit der „Intelligenz“.
Es ist nichts als eine reaktionäre Herrschafts-
lüge zu behaupten, dass der Großteil der Bevöl-
kerung einer umfassenden höheren Bildung we-
gen der „objektiven Grenzen“ ihrer angeblich
mangelnden Intelligenz nicht zugänglich sei. Was
sind die Fakten? Von klein auf existiert ein alle
erfassendes, reaktionäres und sehr rasch selek-
tierendes Bildungssystem, das sich gerade nicht
das Ziel setzt allen Menschen umfassend Bil-
dungsmöglichkeiten anzubieten. Dieses Bil-
dungssystem dient nur einem Ziel, nämlich die
benötigten Arbeitskräfte für die verschiedenen
Klassen und Schichten der Gesellschaft zu se-
lektieren und die Menschen in die für den Kapi-
talismus notwendigen Arbeitsbereiche (ein-
schließlich einer industriellen Reservearmee,
den Erwerbslosen) hinein zu manövrieren.
Die gesamtgesellschaftliche Realität ist ge-
kennzeichnet durch eine milliardenschwere Ver-
dummungsindustrie, durch brutale Auslaugung
der physischen und psychischen Kräfte der gro-
ßen Masse der Werktätigen, durch die auf De-
moralisierung abzielende Behandlung der Men-
schen und durch ihre Ausbeutung und Degra-
dierung. Wer diese Realität analysiert, könnte
erkennen – wenn ihn sein Klassenstandpunkt
nicht hindert – welches gigantische Bildungs-
potential hier planmäßig und bewusst nieder ge-
halten wird und welche Möglichkeiten bei einer
Zerschlagung solcher Herrschaftsstrukturen
existieren werden.
Machen wir uns noch ein weiteres Späßchen
und akzeptieren einen Augenblick, die hoch-
umstrittene Logik heutiger sogenannter Intelli-
genztests. Die große Masse der oberen Zehntau-
send, die ohne jede Leitungstätigkeit oder sons-
tige Arbeit, die den Namen verdient, benutzen
ihre angebliche Intelligenz dazu, sich darüber
auseinanderzusetzen, wie der Überfluss an Geld-
mitteln in Luxuswaren und sonstigen Ver-
schwendungen ausgegeben werden kann. Es
dürfte nicht zu kühn sein zu behaupten, dass die-
se sogenannte „Elite“ nicht wirklich besser bei
einem wie gesagt hoch umstrittenen IQ-Test ab-
schneidet, als etwa 1000 Facharbeiter und Fach-
arbeiterinnen aus verschiedenen Industriezwei-
gen. Die Behauptung von Sarrazin, „dass die
durchschnittliche Intelligenz mit dem sozial-
ökonomischen Status steigt“ (S. 226), ließe sich
so auch immanent wiederlegen. Aber das, wie
gesagt, nur nebenbei.
An einer Stelle lässt Sarrazin dann deutlich die
Katze aus dem Sack. Sarrazin verkündet: „Ein-
kommensunterschiede und damit relative Ar-
mut sind aus den beschriebenen logischen und
tatsächlichen Gründen grundsätzlich unauf-
hebbar ...“ (S. 135, H. v. V.). Der Apologet des
Kapitalismus hat gesprochen.
Herrenmenschenideologie:
„Die gemessene
Durchschnittsintelligenz
der Völker ...“
Sarrazin behauptet, „dass der Wohlstand der
Nationen mit der gemessenen Durchschnitts-
intelligenz der Völker positiv korreliert.“
(S. 214) „Reiche“ Länder wie Deutschland, die
USA, Frankreich, Japan usw. sind demnach in-
telligenter als „arme“ Länder wie z. B. in Afri-
ka, Asien oder Südamerika. Nicht zu vergessen:
Intelligenz ist für Sarrazin eine angeborene, un-
veränderbare biologische Eigenschaft. Sarrazin
verklärt und beschönigt damit also auch die ko-
loniale bzw. heute vor allem neokoloniale Un-
terdrückung und Ausplünderung der großen
Mehrheit der Länder der Welt „unten“ durch eine
kleine Zahl imperialistischer Länder „oben“ zur
angeblichen Naturgegebenheit.
Um das zu widerlegen und zu entlarven ge-
nügt im Grunde ein Blick in die Geschichte.
Länder wie Ägypten und andere Regionen im
Nahen und Mittleren Osten, die heute im Ver-
gleich mit Deutschland „arm“ sind, waren frü-
her einmal weit voraus, sie hatten in der frühen
Geschichte bereits einen hohen Kulturstand mit
Philosophie, Mathematik, Physik usw., als
die Germanen auf dem Gebiet des heutigen
Deutschland tatsächlich ohne all das in den Wäl-
dern lebten.
Auch an diesem Punkt wird sehr deutlich, wie
sehr sich Sarrazin in den Fußstapfen seiner Eu-
genik-Vorgänger bewegt. Sarrazin beruft sich
ausdrücklich auf Galton (S. 92f.). Dieser hat
nicht nur in England seine „Intelligenzfor-
schung“ betrieben, sondern ist auch jahrelang
durch Afrika gereist und hat dort „Intelligenz-
messungen“ betrieben. Beim Vergleich der „Ne-
gerrasse mit der Anglosächsischen“ kommt bei
ihm heraus: „Die durchschnittlichen intellek-
tuellen Fähigkeiten der Negerrasse liegen in
etwa zwei Stufen unter den unsrigen.“ (F. Gal-
ton, Genie und Vererbung, Leipzig 1910, S. 394)
Und: „Der australische Typus endlich, ist noch
um einen Grad tiefer, als der afrikanische Ne-
ger.“ (Ebenda, S. 362)
Zusätzliche Provokationen,
die nicht unbeantwortet bleiben
dürfen
Es wurden hier zunächst aus der Fülle von re-
aktionären und antiwissenschaftlichen und oft
ins absurd lächerlich gehenden Thesen Sarrazins
zwei uns wesentlich erscheinende Denkmuster
des Antikommunismus und der Herrenmen-
schenideologie behandelt und in den Vorder-
grund gestellt. Wir sind deshalb so vorgegan-
gen, um der unübersichtlichen und unlogischen
Darstellungsweise Sarrazins nicht auf den Leim
zu gehen und um nicht auf die zusätzlichen Pro-
vokationen Sarrazins vorrangig oder allein ein-
zugehen.
Es ist durchaus von Bedeutung, dass Sarrazin
einen zutiefst dreckigen Antisemitismus betreibt
und das Märchen von den „jüdischen Genen“
aufwärmt (verkleidet in einem durchsichtigen
Lob der angeblich „gentisch bedingten hohen
Intelligenz der Juden“). Es ist durchaus von
Bedeutung, dass ganz offensichtlich sein Lek-
tor seine verbal-rassistischen Ausfälle noch kor-
regiert und die Begriffe „Rasse“ durch andere
ersetzt hatte. Es ist deswegen von Bedeutung,
um als Bestandsaufnahme über „deutsche Zu-
stände“ festzuhalten, wie weit ein Bundesbank-
er und SPD-Mitglied gehen kann, um Elemente
rassistischer Ideologie und der Nazi-Ideologie
als öffentlich diskutierbare Ansichten in Mas-
senmedien und politischen Parteien aller Art ein-
zuführen – von „Bild“ bis Maischberger, von
SPD bis NPD.
Verbrecherische Eugenik
Besonders erschreckend ist, dass eine direkt
auch im bürgerlichen Sinne verbrecherische Pas-
sage offensichtlich gar nicht zur Kenntnis ge-
nommen und in den uns bekannten Polemiken
keine Rolle gespielt hat. Wir meinen die offene
Forderung nach Eugenik gegen „dysgenisch
wirkende Geburtenstruktur“. („Dysgenisch“
bedeutet in der Sprache der Eugeniker die Ver-
breitung von angeblich „schlechten“ Genen).
Welche Maßnahmen schlägt Sarrazin vor um
gegen die „schlechten Gene“, um gegen die an-
geblich mit „schlechten Genen“ ausgestatten
Menschen vorzugehen? Es muss bewusst sein:
Diese Maßnahmen schlägt Sarrazin in einem
Land vor, in dem auch schon vor der Nazi-Zeit
die Ideologie der Menschenzucht und der sozi-
aldarwinistischen „natürlichen Selektion“ exis-
tierte und wo Hundertausende als „dysgenisch“
definierte Menschen sterilisiert und ermordet
wurden. Sarrazin gibt einen Beurteilungsmaß-
stab an. Da taucht weder der Eid des Hypokra-
tes auf, noch die UNO-Menschenrechtserklä-
rung, noch bürgerliche verfassungsrechtliche
Grundsätze – im Gegenteil. Was da nicht passt,
muss passend gemacht werden. Bei Sarrazin
heißt es:„Was ist geeignet, die Geburtenrate zu
heben, und was ist geeignet, eine dysgenisch
wirkende Geburtenstruktur zu verhindern? Der
ausschließliche Beurteilungsmaßstab ist dabei
die Wirksamkeit der Maßnahmen und die ih-
nen zugrunde liegende pragmatische Ver-
nunft.“ (S. 378)
Es gibt also nur einen, ausdrücklich nur einen
„ausschließlichen Beurteilungsmaßstab“ die
„Wirksamkeit der Maßnahmen“. Was kann das
heissen? Was soll das heissen? Was ist wirksa-
mer als Zwangssterilisation und Massenmord?
Die Antwort auf diese Frage wird in der Manier
eines Demagogen in den Raum gestellt und dem
Publikum überlassen.
Ekelhafter
deutscher Nationalismus
Um seinen verschiedenen reaktionären Ansich-
ten größere Popularität zu verschaffen zieht Sar-
razin im Verlauf des gesamten Buches immer
wieder ein und denselben Joker, ähnlich wie
Politiker aller Couleur: den deutschen Natio-
nalismus. Das ist typisch für dieses Buch, aber
dieser deutsche Nationalismus wirkt wie einge-
streut. Es wird auch nicht dem Anschein nach
begründet, sondern deutsch-nationalistische
Bruchstücke als Zugabe beigemischt, bei der
Sarrazin sich breiter Zustimmung sicher sein
kann.
Extrem primitiv und nur an das Gefühl appe-
lierend wird eine angeblich „drohende Katastro-
phe“ beschworen, die alle tief erschüttern soll.
Sarrazin beschwört den „Abschied unseres Lan-
des aus seiner tausendjährigen Geschichte“
(S. 372). Ein tausendjähriges Reich soll es also
sein.
Eine dümmliche Frage und Aussage nach der
anderen wird wie an einer Kette aufgereiht. Re-
aktionäre Allerweltssprüche wie „Ich möchte
nicht, dass wir zu Fremden im eigenen Land
werden“ (S. 309) oder „Was wird denn in
Deutschland geschehen, wenn das deutsche
Volk still dahinscheidet?“ (S. 346) sind da zu
finden. Sarrazin bemüht dann zwar nicht das „ge-
sunde deutsche Volksempfinden“, aber faselt von
einem „gesunden Selbstbehauptungswillen als
Nation“ (S. 18). Was mit den Kranken ge-
schieht, die „dysgenisch“ sind, haben wir schon
angesprochen.
Der Kampf gegen den widerlich triefenden,
ekelhaften deutschen Nationalismus ist eine all-
gegenwärtige Aufgabe und zeigt einmal mehr:
Es geht nicht nur
um Sarrazin!
Deutschland medial inszeniert und flankiert wird und die im engen Zusammenhang
mit den aktuellen und langfristigen Zielen des deutschen Imperialismus steht.
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