Freitag, 28. September 2012

Wagenknecht: "Kapitalismus garantiert kein gutes Leben"

Sahra Wagenknecht, die Galionsfigur der deutschen Linkspartei, im Interview über Goethe, Marx, das deutsche Elend und warum Kinder von Reichen nichts erben sollen. Die Presse: In Ihrem privaten Arbeitszimmer hängt ein Bild von Goethe. Warum? Sahra Wagenknecht: Natürlich hängt da auch ein Marx-Bild. Aber Goethe ist für mich ein wichtiger Bezugspunkt. Im zweiten Teil des „Faust“ findet man eine verblüffend weitsichtige Kapitalismuskritik. Faust als Unternehmer schafft zwar Wohlstand, doch das ist gleichzeitig mit Verbrechen verbunden. Würde Goethe heute die „Linke“ wählen? Vorstellungen, die über den Kapitalismus hinausgehen, haben ihn fasziniert. Man sollte niemanden vereinnahmen, der sich nicht mehr wehren kann. Aber Goethe wäre bestimmt nicht Mitglied der FDP oder CDU – und auch nicht der heutigen SPD. Man hat den Eindruck: Sie verkünden lieber in Talkshows die reine Lehre, als in die Niederungen der Parteipolitik hinabzusteigen. Ich möchte, dass unsere Vision einer neuen Wirtschaftsordnung die Menschen erreicht. Das gehört für mich mit zur Parteiarbeit. Und ich gebe zu: Ich bin nicht gut im Netzwerken und verbringe nicht viel Zeit damit. Sie schwärmen in Ihrem Buch „Freiheit statt Kapitalismus“ von der Sozialen Marktwirtschaft. Ein Gesinnungswandel? Anlass des Buches war, dass ich früher oft gehört habe: Ihre Kritik ist ja richtig, aber wollen Sie denn die alte DDR wieder? Nein, die Alternative liegt nicht im real existierenden Sozialismus der Vergangenheit, aber auch nicht im heutigen Kapitalismus. In einem wichtigen Punkt bleibe ich bei Marx: Die Eigentumsfrage ist zentral. Ganz wenige leben heute von der Arbeit der vielen. Und große Vermögen bedeuten große politische Macht. Das möchte ich verändern. Sie singen auch das Lob der Mittelständler. Was würde wohl Marx dazu sagen? Marx hat immer den kleinen Unternehmer vom Großkapitalisten und Finanzanleger unterschieden. Am Ende heißt es wieder: Enteignung und Kollektivierung. Mit einer Erbschaftssteuer von 100 Prozent nehmen Sie einen der wichtigsten Leistungsanreize für Unternehmertum. Es geht nur um Erbschaften von über einer Million. Die meisten Leute leisten sehr viel und kommen nie auf solche Vermögen. Wenn ein Unternehmen eine Milliarde wert ist, hat das nicht der Gründer erarbeitet, sondern er gemeinsam mit den Beschäftigten. Sie haben weit mehr Anrecht als die Erben – und der Leistungsanreiz ist auch deutlich höher, wenn sie Eigentümer sein können. Sie zeichnen ein düsteres Bild der sozialen Situation in Deutschland, als Ergebnis einer Verschwörung der Reichen. 30 Prozent seien „zu bitterer Armut verdammt“ und „aus allen sozialen Netzen gefallen“, Infrastruktur und Bildung „verrotten“. Man fragt sich zuweilen: Wovon redet Frau Wagenknecht? Vom London des Oliver Twist? Schauen Sie sich viele heruntergekommene Wohngebiete im Ruhrgebiet an. Kinder gehen ohne Frühstück in eine Schule, in der der Putz von den Wänden fällt. Armut ist längst wieder erblich geworden. Wenn Sie die Deutschen fragen, würden die meisten wohl lieber heute leben als damals. Ich glaube, dass viele Rentner eine auskömmliche Rente und viele Leiharbeiter lieber einen ordentlichen Job haben würden. Zuletzt haben die Menschen im Niedriglohnsektor 19 Prozent ihres Einkommens verloren. Das Wachstum ist nur noch den obersten zehn Prozent zugutegekommen. Das stimmt nicht, aber wir werden uns hier über die Zahlen nicht einig werden. Die Reallöhne in Deutschland sind seit 2000 im Schnitt um fünf Prozent gesunken, die Gewinn- und Vermögenseinkommen um 56 Prozent gestiegen. Viele wünschen sich eine Situation zurück, in der das reguläre Arbeitsverhältnis der Standard ist. Die Hälfte aller neuen Jobs ist befristet, junge Leute haben kaum noch eine Chance, ihr Leben zu planen. Viele Menschen haben keine Zeit mehr für Familie und Freunde, sie müssen nur noch arbeiten. Diese Situation ist unnötig, nur im Interesse derer, die ein Profiteinkommen beziehen. Sie behaupten: Mit dem Wachstum der Konzerne stirbt der Wettbewerb. Die Erfahrung lehrt: Auch unter großen Unternehmen herrscht scharfe Konkurrenz. Selbst ein globaler Platzhirsch wie Nokia kann rasch in Bedrängnis geraten. Es gibt einige Märkte, Inseln der Innovation, auf denen noch intensiver Wettbewerb herrscht: Premium-Autos gehören dazu. Aber in vielen Bereichen sind die Reviere abgesteckt. Es wird viel zu viel Geld an die Anleger ausgeschüttet, das für Innovationen fehlt. Extrem bei US-Autokonzernen – die deshalb auch teilweise pleitegegangen sind. ... weil die Kunden ihre Produkte nicht mehr gekauft haben. Sie ignorieren die Macht und Freiheit der Konsumenten. Die unterscheiden auch nach moralischen Kriterien, wenn sie etwa von Kinderarbeit oder Massentierhaltung erfahren. Diese Freiheit muss man sich leisten können! Wer unter 1000 Euro netto verdient, kleidet sich in Läden wie KiK ein, weil er sich eine teure Boutique, die vielleicht in Deutschland nähen lässt, gar nicht leisten kann. Sie gehen nicht zum Biomarkt, weil das für sie viel zu teuer ist. Sie sagen, die Schulden sind wegen der Bankenrettung gestiegen. Tatsächlich ist (außer in Irland und Spanien) der größte Teil des Schuldenbergs durch immer neue soziale Wohltaten entstanden. Unsinn. Auch in Deutschland hat sich die Staatsschuld in den vergangenen 15 Jahren verdoppelt. In diesen Jahren wurde der Sozialstaat abgebaut. Es gibt zwei Ursachen: die Bankenrettung und das Steuerdumping. Angenommen, Ihre Analyse stimmt: Warum wählen dann weltweit so wenige radikal links? Die Frage ist immer: Welche Alternativen haben die Leute? Leider unterscheiden sich die großen Parteien kaum. Immer mehr Menschen gehen nicht mehr zur Wahl, weil sie das Gefühl haben, nichts mehr zu beeinflussen. In einigen Ländern gibt es im Übrigen deutliche Zugewinne für linke Parteien. Warum nicht in Deutschland? Viele Leute sagen: Die „Linke“ will etwas anderes, das finden wir auch gut, aber sie hat ja keine Mehrheitsbasis. Dass wir die Politik auch aus der Opposition verändern können, müssen wir den Wählern deutlich machen.

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