Mittwoch, 16. Juli 2014

Der "Einzelfall" von Bad Schandau

Ein Hamburger Schüler, der in Bad Schandau von Neonazis zusammengeschlagen wird; Polizisten, die nach einer halben Stunde am Tatort erscheinen; eine Ärztin, die schwere Verletzungen beim Opfer übersieht – mehr Klischee geht eigentlich kaum. Doch da fehlen noch ein paar Dinge. Beispielsweise der Hinweis, es handele sich um einen Einzelfall sowie die Warnung, die Sächsische Schweiz als braune Hochburg zu stigmatisieren. Von Patrick Gensing Das Hamburger Abendblatt brachte den Stein am 16. September 2013 ins Rollen. Die Zeitung berichtete: Tim wird nichts vergessen, dafür haben die Schläger gesorgt. Sie haben seinen Kiefer gebrochen und seine Augenhöhle zertrümmert – vermutlich, weil sie fanden, dass der Junge deutsch-chinesischer Herkunft nicht aussah wie er aussehen sollte, blondhaarig und blauäugig. Bis gestern lag der schwer traumatisierte 15-Jährige auf der Kinderstation des UKE [Universitätsklinikum Eppendorf in Hamburg, PG]. In Sachsen wurden die schweren Verletzungen des Jugendlichen nicht erkannt. Die Ärzte wollten sich dazu nicht äußern, berichtete die Freie Presse – aus Datenschutzgründen, wie eine Sprecherin der zuständigen Klinik dem Blatt erklärte. Nach Angaben des Schulleiters des betroffenen Hamburger Gymnasiums, Egon Tegge, seien in Pirna bei dem Jungen lediglich eine Prellung und eine Platzwunde diagnostiziert worden. Es sei bekannt gewesen, dass dem Jugendlichen noch am selben Tag eine achtstündige Busfahrt bis nach Hamburg bevorstand. Auch die Polizei soll nicht gerade durch übermäßiges Engagement aufgefallen sein, berichteten Medien. In Hamburg steht zudem das Lehrpersonal massiv in der Kritik. Eine Region in “Sippenhaftung”?? In Sachsen zeigen sich Politiker indes entsetzt über die Tat – aber erst, nachdem überregional darüber berichtet wurde. Der Polizeibericht samt Zeugenaufruf hatte zuvor kaum für Resonanz gesorgt. Klaus Brähmig, CDU-Bundestagsabgeordneter aus der Sächsischen Schweiz und Vorsitzender des Tourismusausschusses im Bundestag, sprach von einem sehr bedauerlichen Einzelfall. „Es kann nicht sein, dass eine ganze Region für die Untaten von Einigen in Sippenhaftung genommen wird“, sagte er der dpa. Innenminister Markus Ulbig ließ mitteilen, es handele sich um einen “schrecklichen Einzelfall, für den man sich entschuldigen muss”. “Ein ärgerlicher Rückfall”, sagte Behördensprecher Martin Strunden der Freien Presse – und verwies auf zahlreiche Maßnahmen des Innenministers zur Bekämpfung des Rechtsextremismus. Der Tourismusverband Sächsische Schweiz hatte wenige Tage zuvor die Wähler in der Urlaubsregion zur Verteidigung der Demokratie aufgefordert. „Wir stehen ja in dem Ruf, dass die NPD hier stark ist und die Wählerschaft auch nichtdemokratische Parteien wählt“, sagte Verbandsgeschäftsführer Tino Richter. „Und wir wissen, dass der Tourismus dadurch Schaden nimmt.“ Opfer einzelner Verrückter und der Medien? Eine Entschuldigung, die man abgeben müsse, der Hinweis darauf, dass es sich um einen Einzelfall handele und ein Lob an sich selbst, weil man doch schon viel gegen die Nazis tue – dem 15-jährigen Opfer und anderen Betroffenen dürfte das wenig helfen. Die CDU in Sachsen sieht den Freistaat offenbar als Opfer “einiger Verrückter” auf der einen und der Medien auf der anderen Seite, die die Sächsische Schweiz in “Sippenhaftung” nehmen. Dabei ist es ziemlich gewagt, von einem Einzelfall zu sprechen. Denn nur wenige Tage nach dem Überfall auf die Hamburger Schüler wurde auf einem Ortsfest in Cotta/Dohma ebenfalls ein 15-Jähriger brutal geschlagen und mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert. Auch hier soll der Täter der rechten Szene nahe stehen, berichten die RAA Sachsen. “Sehr hohe Gefahr” Die Umstände der Taten sind nicht abschließend geklärt. Dennoch: “Zwei schwerverletzte Jugendliche an zwei Wochenenden sind leider keine ‚bedauerlichen Einzelfälle‘. Unsere Statistik verdeutlicht, dass im Landkreis die Gefahr rechter und rassistischer Gewalt noch immer sehr hoch ist“, sagt Andrea Hübler, Beraterin des RAA Sachsen. Die Chronik des Vereins weist allein elf rechtsmotivierte Angriffe in den ersten neun Monaten des Jahres 2013 im Altkreis Sächsische Schweiz auf. Elf Einzelfälle wahrscheinlich. Darunter finden sich Körperverletzungen wie in Bad Schandau, Dohma sowie in der Stadt Pirna. Dort wurde im Februar ebenfalls ein 15-Jähriger mit einer Flasche auf den Kopf angegriffen und bereits am Boden liegend weiter geschlagen. Zudem wurde durch die Opferberatung ein Brandanschlag auf einen Asia-Imbiss in Pirna Copitz registriert. Rassistisch motivierte Übergriffe seien trotz umfangreicher Präventionsarbeit immer noch in der Region vorhanden, so die Vorstandsvorsitzende der Aktion Zivilcourage, Judith Brombacher. Miro Jennerjahn, Rechtsextremismusexperte der Grünen im sächsischen Landtag, warnte “eindringlich davor, nun in alte Abwehrmechanismen zu verfallen und von Einzelfällen zu sprechen”. Dies stelle eine Verharmlosung dar, die letzten Endes die Verfestigung rechtsextremer Strukturen begünstige, sagte Jennerjahn. Der Grünen-Politiker betonte, Gewalt sei “immer nur die offen sichtbare Spitze des Eisbergs rechtsextremen Wirkens in Sachsen”. Das Engagement in Sachsen gegen Rechtsextremismus, das das Innenministerium so rühmte, schätzt Jennerjahn auch etwas anders ein: Die Staatsregierung lege seit Jahren wichtigen Institutionen wie mobilen Beratungsstellen “Steine in den Weg – sei es durch verfassungswidrige ‘Demokratieerklärungen’ oder durch Einengen der finanziellen Spielräume”. “Nur” noch zehn Prozent für die NPD … Das NDR-Medienmagazin ZAPP thematisierte ebenfalls die Gefahr, Medien würden die Sächsische Schweiz als braune Hochburg stigmatisieren. Als Indiz wurde unter anderem das Zitat aus einer Zeitung präsentiert, die vom “rechten Rand Deutschlands” schrieb. Zudem sei in Medienberichten nicht erwähnt worden, dass die Wahlergebnisse der NPD in Sachsen rückläufig seien, heißt es in dem Beitrag. Das ist nicht falsch, denn im Wahlkreis Sächsische Schweiz holte die NPD bei der Landtagswahl 2009 stolze 10,1 Prozent der Stimmen – und landete vor der SPD. Bei der für die NPD historischen Wahl von 2004 waren es aber sogar 15,1 Prozent gewesen. Eine echte Erfolgsstory geht anders, vor allem, da die NPD bei militanten Neonazi-Gruppen an Zuspruch verloren hat, da Parteichef Apfel hier sehr unbeliebt ist. Und was ZAPP auch nicht erwähnte, ist beispielsweise, dass die Neonazi-Szene in der Region offenkundig weiterhin höchst aktiv ist. Ein Szeneladen, der erst 2012 eröffnet wurde, stößt in dem nicht einmal 4000 Einwohner zählenden Ort offenbar auf wenig Widerstand. Da die ZAPP-Kollegen selbst lobenswerterweise keine offene Kritik scheuen, möchte auch ich hier nicht mit meiner Meinung hinter dem Berg halten: In dem Film wurde von einem mutmaßlichen Überfall gesprochen, obgleich selbst die Polizei bereits bestätigt hatte, dass es diesen gegeben hatte. Opfer kamen gar nicht zu Wort. Dafür endete der Beitrag mit dem recht banalen Fazit, Medien müssten über Nazi-Gewalt berichten, sie dürften diese aber nicht kleinreden oder aufbauschen. Das klingt eher nach Appell als nach Analyse. Keine Klassenfahrten in den Osten? Offenbar als Beispiel für das Aufbauschen wurde in dem ZAPP-Beitrag die Hamburger Morgenpost angeführt. Das Boulevardblatt thematisierte die Frage, ob es “keine Klassenfahrten mehr in den Osten” geben sollte. In der Tat eine pauschale Frage auf den gesamten Osten bezogen, doch ganz aus der Luft gegriffen ist sie dennoch nicht. Denn für Eltern, deren Kinder nicht weiß sind, ist dieses Thema durchaus weiter relevant. “Sehr, sehr kritisch” würde sie eine Klassenfahrt in die Sächsische Schweiz sehen, sagte mir die Mutter eines dunkelhäutigen Mädchens. Es reiche ja schon, dass Kinder angepöbelt werden könnten. Das kann überall passieren, doch in Teilen Ostdeutschlands schätze sie das Risiko deutlich höher ein. Eine Einschätzung, die sich mit der anderer Eltern deckt. Und ob das Gymnasium in Lurup noch einmal die Schüler in die Sächsische Schweiz schicken wird, darf ebenfalls bezweifelt werden. Sächsische Demokratie Statt Medienschelte gebührt dem Hamburger Abendblatt das Lob, den Überfall von Bad Schandau in die große Öffentlichkeit gebracht zu haben. Dabei spielt der Medienstandort Hamburg sicherlich eine gewisse Rolle. Bad Schandau ist kein Einzelfall, wie die Chroniken der Initiativen gegen Neonazis zeigen. Dabei bleibt es aber nicht: In Sachsen wird ein Jugendpfarrer in einem offenbar politischen Prozess angeklagt. Der Pfarrer wurde von einem CDU-Stadtrat noch öffentlich beleidigt. In Sachsen lebten die NSU-Terroristen. In Sachsen wurde ein 36-jähriger Familienvater, zuvor nicht vorbestraft, wegen der Teilnahme an Anti-Nazi-Protesten im Jahr 2011 zu 22 Monaten Haft verurteilt – ohne Bewährung. Rechtsextreme Gewalt wird weiter von der Staatsregierung verharmlost und die Arbeit von mutigen Menschen, die sich gegen Neonazis engagieren, erschwert. Kritiker meinen, der Freistaat erfülle daher nur formal die Kriterien einer Demokratie. Der Grünen-Politiker Jennerjahn formulierte es so: “Die sächsische Halbdemokratie, wie sie sich in den letzten 20 Jahren unter starker CDU-Dominanz entwickelt hat, ist nach wie vor geprägt von Autoritarismus, jedwede Kritik an konkretem staatlichen Handeln wird als potenziell antidemokratisch gewertet.” Eine gesellschaftliche Atmosphäre, die rechtsextreme Aktivitäten zumindest begünstigt.

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