Mittwoch, 16. Juli 2014

Kritik oder ›Denunziation‹?

Eine Replik auf die Gruppe sous la plage aus Hamburg Die Gruppe sous la plage hat in der Phase 2.45 eine antideutsche Invektive vom Stapel gelassen, die ich in dieser unreflektierten Form eigentlich nicht (mehr) für möglich gehalten hatte; die Argumentation basiert auf Glaubensgewissheiten, deren dogmatische Reproduktion sie nicht wahrer macht. Mich interessiert, bis auf den ersten Punkt, der aber etwas von ihrem Argumentationsstil verrät, nicht, ob die Kritik an ...ums Ganze! (UG) im Einzelnen stimmt, ob also deren Krisendiagnose defizitär ist und sie rattenfängerisch auf die Massen schielt, ohne sich kritisch zu fragen, aus was für Subjekten diese sich denn zusammensetzt. Hierauf möge UG selbst antworten. Mich interessieren vielmehr die wenig überzeugenden Argumente für die nur in einem sehr beschränkten Sinne politisch zu bezeichnenden Schlüsse, die sous la plage aus ihrer Kritik ziehen zu müssen glaubt. 1. Der Vergleich mit dem Schlageter-Kurs der Weimarer Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), der ja scheinbar zur historischen Untermauerung der eigenen Position dienen soll, ist ziemlich verquer. Die KPD ist nicht bloß bei irgendwelchen Massen mitgelaufen, unter denen sich auch NationalistInnen und AntisemitInnen befanden, sondern sie hatte selbst nationalistische und antisemitische Positionen eingenommen, um die Massen zu gewinnen. Dies UG oder anderen radikalen Linken – abgesehen von anti-imperialistischen und stalinistischen Sekten – vorzuwerfen, ist zwar schlicht unhaltbar, wird aber durch diese sehr unsaubere Analogie suggeriert. Das ist nicht Kritik, sondern in der Tat »Denunziation«, die ja scheinbar als Modus der Auseinandersetzung von sous la plage begrüßt wird. Was in Bezug auf die historische KPD richtig ist (und bis heute in der Linken viel zu wenig in seiner Tragweite erkannt wird), ihr aktiver Beitrag zum Erfolg der Nazis, ist bezüglich UG und anderen eine durch nichts gedeckte Unterstellung. 2. Das Hauptargument von sous la plage dafür, den mehr oder weniger antikapitalistischen Massen fernzubleiben oder sie gar – auf diesen Größenwahn ist noch zurückzukommen – präventiv zu bekämpfen, ist, dass diese ein durch und durch »fetischisiertes Verständnis der Welt« hätten: eine »Weltsicht«, die »in ihrem beharrlichen Nicht-Erkennen der Weltvergesellschaftung immer strukturell antisemitisch« (S. 48) sei. Hierbei wird einiges in einen Topf geworfen, was es zu trennen gilt; das ist übrigens schon in Moishe Postones trotz allem richtungsweisender Antisemitismusanalyse der Fall, auf die sich wohl indirekt bezogen wird. Die Kategorie des strukturellen Antisemitismus mag gut gemeint sein, ist aber entdifferenzierend und verharmlosend: Dem Antisemitismus kann ein verkürzter Antikapitalismus innewohnen, aber er ist vielmehr und viel gefährlicher als dieser, der selbst antisemitisch motiviert sein kann, keineswegs aber sein muss. Beim Antisemitismus handelt es sich um eine geschlossene, wahnhafte Weltanschauung, die, um es deutlich zu machen, nicht bloß gegen Banken und besonders üble Charaktermasken des Kapitals wettert, sondern die Vernichtung der Juden als Prinzip des Bösen will – für mich ein qualitativer Unterschied: den verkürzten/fetischistischen Antikapitalismus als Antisemitismus zu bezeichnen, wird Erstem nicht gerecht, und verharmlost Letzteren. Ich glaube daher auch nicht, dass die antikapitalistischen Proteste eigentlich nur einen verkappten antisemitischen Pogrom darstellen; ehrlich gesagt halte ich diese zumindest indirekte Unterstellung, die jeden, der nicht Antideutsch daher kommt, zum potentiellen Antisemiten abstempelt, für infam. Auch die Sache mit dem Zusammenhang von ökonomischen Fetischismus und Antisemitismus ist präziser zu bestimmen, wenn denn hier nicht abermals unzulässig entdifferenziert werden soll. Da der moderne Antisemitismus zweifelsohne eine Frucht der kapitalistischen Gesellschaft ist, kann die Fetischtheorie auch hier etwas zur Erklärung beitragen. Ganz verkürzt: Im Juden wird die anonyme, unpersönliche Herrschaft des Kapitals repersonalisiert, die verdinglichte Macht der Verhältnisse wird wieder greifbar und Juden werden für ihre Folgen persönlich haftbar gemacht. Die undurchschauten Verhältnisse werden personalisiert und Momente des Kapitals universalisiert: etwa der Zins, dessen Fetisch der Antisemitismus frönt, indem er ihn als jüdische Geldgier ausgibt. Doch dies sind nur Momente des Antisemitismus. Und hier ist die Grenze der Fetischtheorie zu benennen. Es kommt die Kulturgeschichte ins Spiel – wieso eigentlich Juden? – und weitere Aspekte des Antisemitismus, die nichts mit dem verkürzten/fetischistischen Antikapitalismus zu tun haben; ferner die (Sozial-)Psychologie des Antisemitismus, bei der die Fetischtheorie nichts mehr zu bieten hat. Der antisemitische Vernichtungswahn, die völkische Paranoia, lässt sich nicht aus dem Fetischcharakter des Kapitalismus ableiten. Nur im Kontext vieler Vermittlungsschritte – die von sous la plage nicht einmal angedeutet werden – kann die Fetischtheorie auch etwas zur Erklärung des Antisemitismus beitragen: Er kann auf die fetischisierte Wahrnehmung der sozio-ökonomischen Formen zurückbezogen werden, er entspringt diesen Formen aber nicht notwendig und spontan. Sein (Bewusstseins-)Inhalt (der Jude als Prinzip des Bösen) ist nicht notwendige Erscheinung der ökonomischen Formen. Dass die Macht des Kapitals als Macht der Juden ausgegeben wird, entspringt nicht dem Kapitalfetisch an sich, sondern stellt dessen Personifizierung dar. Der Antisemitismus ist keine objektive gültige und notwendige Gedankenform wie der ökonomische Fetisch – mit Geld hantieren muss auch der Fetischkritiker, Antisemit im gleichen zwingenden Sinne muss aber niemand sein –, sondern eine Ideologie und Praxis der Gewalt, die in der Tat auf dem Fetisch aufbauen kann. Nochmals: Dass angeblich die Juden hinter allem stecken, entspringt keiner ökonomischen Form als solcher. Zugespitzt lässt sich also sagen, dass die antisemitische »Personifizierung und Biologisierung der Verdinglichung« eine Regression ist, die den Realitätsgehalt – das wahre Moment – des Fetischs einkassiert: dass es wirklich verselbstständigte soziale Strukturen sind, die herrschen und in denen fraglos geherrscht wird, nicht aber allmächtige Personen alles bewusst lenken. Das alles gilt es auseinander zu halten, wenn man denn meint, nicht Polemik, sondern politische Analyse betreiben zu wollen. 3. Kategorien wie struktureller Antisemitismus und Antisemitismus als Fetischismus decken diese (analytisch wie politisch) wichtigen Unterschiede wieder zu. Insgesamt scheint sous la plage für eine typisch antideutsche Verwechslung bzw. Ineinssetzung von Ideologiekritik und politischer Intervention zu stehen, die, ob sie will oder nicht, reichlich anmaßend daher kommt. Woher soll Otto-Normalo sein Wissen über die Verhältnisse denn beziehen? Wie soll er denn jenes falsche Bewusstsein überwinden, wenn nicht über politische Erfahrungen, die irgendwo nun einmal beginnen müssen? Am Anfang kann natürlich kein Bewusstsein stehen, wie es jene haben, deren Praxis seit Jahren theoretische Reflexion ist. Verkürzter/fetischistischer Antikapitalismus kann sowohl der Anfang in weitergehende Einsichten, als auch durch und durch reaktionär sein. Wer hat tatsächlich als individuelles politisches Subjekt schon immer den richtigen Durchblick? Ist dieser nicht vielmehr das Resultat eines häufig widersprüchlichen Lern- und Bildungsprozesses? Soll man aufgrund der potenziellen Ideologiehaftigkeit des Bewusstseins nur darauf rum kloppen und sich ja nicht mit den Widersprüchen der Realität einlassen, die man sich nun einmal nicht aussuchen kann? Darf tatsächlich nur der auf die Straße gehen und vor dem Vorwurf des Antisemitismus sicher sein, der vorher Marx und Adorno studiert hat? Ich halte nichts von bewusstloser Massenagitation und auch nichts davon, die Wahrheit der Propaganda dem vermeintlichen politischen Erfolg zu opfern; hier liegt in der Tat ein Problem der Bewegungslinken, die sich und anderen gerne einen in die Tasche lügen. Ohne Kritik an den Massen geht rein gar nichts in Richtung radikaler Befreiung. Doch diese Kritik muss sich auf die Massen einlassen, und kann sich nicht über sie erheben. Der Standpunkt der Kritik als Denunziation macht es sich nicht nur sehr bequem, sondern ist auch ausgesprochen autoritär und elitär. Das, was diese Kritik angeblich nicht sein soll, macht ihren Kern aus: ein »abstraktes System« (49) von antideutschen Glaubenssätzen darzustellen. Woher auch immer hat man selbst den Durchblick, dass die Anderen/die Massen keinen Durchblick haben. Dies führt dann konsequent zu einem negativen Leninismus: Statt wie im Original die Bewusstlosen zur Revolution zu führen, müssen diese aufgehalten und bekämpft werden, da ihre Bewusstlosigkeit a priori (zumindest in Deutschland) in die Konterrevolution führt. Aber auch von der »Pose« (49) ist die Argumentation alles andere denn weit entfernt: Wenn der virtuelle Mob wirklich unterwegs sein sollte, dann kann man nur hoffen, dass die staatlich alimentierten Büttel auch einmal die richtigen treffen. Denn seien wir ehrlich, dass unser versprengter Haufen dem Mob »handfest« (49) etwas entgegen zusetzen hätte, ist leider absolut lächerlich; ich hatte beim Lesen unwillkürlich Benny-Hill-mäßige Szenen vor dem geistigen Auge. Wer wirklich daran interessiert ist, der Reaktion entgegenzuarbeiten, ist gut beraten, dort zu intervenieren, wo zumindest das Potential für emanzipatorisches Bewusstsein ist. Jede emanzipatorische Theorie und Praxis muss den blutigen Umschlag von Revolte in Ressentiment abwehren und den verkürzten Antikapitalismus aufklären und bekämpfen. Ihn zum Grund der Absage an jede (›nicht-denunziatorische‹) Praxis zu machen, die sich auf die Widersprüche und Abgründe der Wirklichkeit einlässt, ist aber verkehrt, da sie selbst der Reaktion in die Hände arbeitet: Wir haben gar keine andere Wahl als uns auf dasjenige Bewusstsein einzulassen, welches nun einmal vorherrscht. Der Prozess der Aufklärung mag mühselig sein, es gibt aber keine Alternative zu ihm. Die Position von sous la plage, die von oben herab ihr Urteil über den dummen Pöbel fällt, wird hingegen rein gar nichts an den Verhältnissen ändern und zementiert somit das Elend, das zu Recht angeklagt wird. 4. So viele Widersprüche wie am Ende der Ausführungen auftreten, sind mir selten auf so knappen Raum begegnet: Wird gerade noch der griechische Mob von AntisemitInnen und NationalistInnen vor Augen geführt, muss sofort auf das ureigenste Credo umgeschwenkt werden: die Deutschen. »Wie hältst du es mit deinem Volk?«, lautet die Frage, deren Antwort schon vorher feststeht. Sicherlich ist es oft genug ein ungemütliches Pack. Wie für jedes partikulare Zwangskollektiv, das ein- und ausschließt, sollte die Linke auch für dieses keinerlei Sympathie haben. Was das Maß an Nationalismus und Antisemitismus, an Pogromstimmung und reaktionären Bewusstsein betrifft – der Hinweis auf Griechenland hat es selbst gezeigt, oder waren das auch nur verkappte Deutsche? – ist man hierzulande allerdings auf Durchschnittsniveau. Dass dieses gruselig genug ist und wo es nur geht, angegriffen gehört, steht außer Frage. Man verstellt sich aber den Blick auf die Wirklichkeit, wenn man meint, von der nicht stichhaltigen These einer »ungebrochene[n] Aktualität der unbewältigten völkischen Ideologie in Deutschland« (49) ausgehen zu können. Es geht nicht darum die deutsche Täternation zu entlasten, sondern einfach um den Fakt, dass eine politische Analyse, die vom Nationalsozialismus als bis auf den heutigen Tag alles bestimmenden Faktor ausgeht, schlicht anachronistisch und provinziell ist; entsprechende politische Fehleinschätzungen (sowohl die deutsche Staatspolitik als auch das Bewusstsein der Massen betreffend) inbegriffen. Des Weiteren verkennt man das Wesen des Antisemitismus, wenn man ihn, empirisch unhaltbar, einem einzelnen ›Nationalcharakter‹ oder einer einzelnen ›Nationalkultur‹ zuschreibt – und ihn so abermals verharmlost: »Die Zurechnung des geschichtlich-gesellschaftlichen Geschehens zu nationalen Charakteren verschleiert nicht nur die Bedeutung von Auschwitz, sondern auch den Charakter des vorausgegangenen Antisemitismus.« 5. Sous la plage will also – schwebt ihr über dem deutschen Zwangskollektiv? Ich würde hier schon ganz gerne raus! – »keine Revolution mit den Deutschen machen und insbesondere die Deutschen nicht befreien« (49). Da weder das eine noch das andere irgendwie akut zu erwarten bzw. für sous la plage zu befürchten ist, scheint es sich bei dieser Formulierung offensichtlich um ein antideutsches Dogma zu handeln. Ich nehme dieses jetzt einfach mal ganz platt beim Wort. Was will sous la plage denn dann? »Die Deutschen« in toto beherrschen oder bekriegen? Oder ist dieser vollständig essentialistische Begriff des Deutschen doch nur eine Metapher für reaktionäre Arschlöcher, denen man sich selbstredend kompromisslos entgegenstellen muss? Sollen etwa auch der griechische Faschist, die islamistische Gotteskriegerin etc. eigentlich auch nur Deutsche in anderer Erscheinungsform sein? Wie man es dreht und wendet: Entweder wird selbst von einem unhaltbaren völkischen Begriff des Deutschen ausgegangen oder aber »der Deutsche« zu einer bloßen Metapher universalisiert und entspezifiziert; ich finde beides sehr unbefriedigend. Kurzum: Das ist bestenfalls anti-deutsche Rhetorik. Das »Wissen« über den oder das »Deutsche«, dessen inhaltliche Bestimmung nirgendwo gegeben wird, sondern sich scheinbar von selbst versteht, ersetzt die politische Analyse. Anstelle der, wie es der olle Lenin so gern nannte, konkreten Analyse der konkreten Situation, bedient man sich eines Dogmas, aus dem dann die ›Politik‹ deduziert wird. Ich kann darin keinerlei Erkenntnisfortschritt erblicken. 6. Sollte die Verbalattacke ernst gemeint sein, bleibt zu guter Letzt eine Frage: Wie(so) dann überhaupt noch Kommunismus? ~ Von Hendrik Wallat. Der Autor lebt in Hannover. Fußnoten Sous la plage, They Haven’t Even Started Yet!, in: Phase 2.45 (2013), 47–49. Im Folgenden werden Zitate aus diesem Artikel mit in Klammern gesetzten Seitenangaben gekennzeichnet. Falko Schmieder, Ludwig Feuerbach und der Eingang der klassischen Fotografie. Zum Verhältnis von anthropologischem und Historischem Materialismus, Berlin/Wien 2004, 414. Schmieder bringt vergleichbare Argumente gegen die Beschreibung des Antisemitismus als Fetischismus vor: »jetzt handelt es sich nicht mehr lediglich darum, daß gesellschaftliche Verhältnisse als Natureigenschaften von Dingen, sondern darum, daß sie als Machenschaften und Entäußerungen einer ›Gegenrasse‹ erscheinen«. Und weiter: »Offenkundig sind mit dem Sozialdarwinismus und den Rassentheorien Anschauungsformen bezeichnet, die sich nicht in gerader Linie aus den ökonomischen Kategorien ableiten lassen«. Vgl. Hendrik Wallat, Von feinen Unterschieden und ihren politischen Bedeutungen, in: Phase 2.42 (2012), 45–49. Detlev Claussen, Grenzen der Aufklärung. Die gesellschaftliche Genese des modernen Antisemitismus, Frankfurt a.M. 2005, 43.

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