Freitag, 11. Juli 2014

Zwangsarbeit: Ein gesellschaftlicher Skandal

Es gibt sie mitten unter uns, auch in Deutschland: Menschen, die unter miserablen Bedingungen zur Arbeit gezwungen werden. Was die Politik gegen die modernen Formen der Zwangsarbeit tun muss, beschreibt Experte Philipp Schwertmann. Zwangsarbeit in Deutschland. Dass Menschen gegen ihren Willen niedrigste Arbeiten verrichten müssen, wird mit Unrechtsregimes verbunden, wie dem Dritten Reich oder der DDR, wo Zwangsarbeit durch staatliche Stellen organisiert wurde. In der Bundesrepublik Deutschland ist Zwangsarbeit kaum vorstellbar. Und doch gibt es sie, in Deutschland und in anderen EU-Mitgliedstaaten. In der EU kommen auf 1000 EU-BürgerInnen zwei ZwangsarbeiterInnen, schätzt die Internationale Arbeitsorganisation (ILO). Über 600000 Menschen sind EU-weit Opfer dieser Ausbeutung, zur Arbeit gezwungen nicht vom Staat, sondern von privatwirtschaftlichen Akteuren. Eines der „modernen“ Gesichter der Zwangsarbeit ist Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung, ein Straftatbestand, der erst 2005 ins deutsche Strafgesetzbuch eingefügt wurde. Der Begriff Menschenhandel ist irreführend, da der eigentliche Handel nebensächlich ist. Zentral ist dagegen die Organisation von Arbeit unter Zwang zum Zweck der Arbeitsausbeutung. Dies betrifft auch Arbeitsverhältnisse, für die Menschen gezielt angeworben und die anfangs freiwillig eingegangen wurden. Oft verschlechtern die Arbeitgeber die Bedingungen erst im Laufe des Beschäftigungsverhältnisses. Um die Beschäftigten gefügig zu halten, wird Zwang ausgeübt. Ihnen werden die Löhne vorenthalten, ihre Ausweisdokumente konfisziert, Drohungen gegen die ArbeitnehmerInnen und ihre Familien nicht selten von physischer Gewalt begleitet. Aber auch die Täuschung über die wahren Inhalte der Arbeit und über die Arbeitsbedingungen dient dazu, Menschen in ihrer Handlungsfreiheit zu beschneiden. Denn die ArbeitnehmerInnen migrieren mit dem Versprechen einer lukrativen Arbeit in die EU-Staaten, sie haben zum Teil hohe Vermittlungsgebühren bezahlt und müssen zwangsläufig wesentlich schlechtere, oft menschenunwürdige Bedingungen akzeptieren. „Bisher ist der politische Wille kaum entwickelt, Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung als reales Problem zu akzeptieren.“ Zwangsarbeit heute funktioniert in der Regel ohne Ketten, ohne Gefängnisse oder Arbeitslager. Die Formen des Zwangs sind meist subtil und oft nur für das geschulte Auge zu erkennen. Zwangsarbeit gibt es in Deutschland in einer Reihe von Wirtschaftssektoren, besonders betroffen sind die Bereiche Bau, Landwirtschaft, Gastronomie, Fleischverarbeitung, Gebäudereinigung oder haushaltsnahe Dienstleistungen wie die Pflege. Dazu kommt die Zwangsarbeit in der informellen Wirtschaft. Menschen werden zur Bettelei oder zu illegalen Aktivitäten gezwungen, vom Verkauf unversteuerter Zigaretten über die Arbeit auf illegalen Cannabis-Plantagen bis hin zum Drogenschmuggel. Das Bewusstsein für diese Formen der Zwangsarbeit ist in Europa und auch in Deutschland nur sehr gering ausgeprägt. Das gilt für Behörden wie für Beratungsstellen. Selten erhalten die Betroffenen Hilfe oder werden für ihre Leiden entschädigt. Das macht die Organisation dieser Ausbeutung äußerst lukrativ und hält die Risiken gering. Die ILO schätzt, dass weltweit durch Zwangsarbeit (ohne Zwangsprostitution) jährlich Gewinne in Höhe von 51 Milliarden Dollar gemacht werden. In den entwickelten Volkswirtschaften ist Zwangsarbeit mit durchschnittlich 34400 Dollar jährlichem Gewinn pro Betroffenen am profitabelsten. Die Diskrepanz zwischen den ILO-Schätzungen und den aufgedeckten Fällen ist riesig. Gerade mal 14 Betroffene von Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung zählt das Bundeskriminalamt für 2012. Das zeigt die Hilflosigkeit der Strafverfolgungsbehörden und ist ein Skandal für eine hoch entwickelte Gesellschaft wie die unsere. Die internationalen Vorgaben sind klar. Sowohl die EU, die ILO, als auch der Europarat fordern durch Richtlinien oder Konventionen eine umfassende Strategie zur Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz der Betroffenen. Erst im Juni hat die ILO ein Protokoll gegen Zwangsarbeit verabschiedet, das die ILO-Mitgliedstaaten verpflichtet, nationale Aktionspläne auszuarbeiten. Die mangelhafte Verfolgung von Zwangsarbeit hat bereits zu einer Verurteilung Frankreichs vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geführt, Klagen gegen weitere europäische Staaten könnten folgen. Um in Deutschland die weitgehende Untätigkeit gegen Zwangsarbeit zu ändern, fehlt es an Sensibilität und Fachwissen, an Hilfe für Betroffene und koordiniertem Vorgehen von Behörden. Bisher ist der politische Wille kaum entwickelt, Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung als reales Problem zu akzeptieren. Nach wie vor gilt in breiten Kreisen die Ausbeutung von mobilen Beschäftigten als Kollateralschaden einer florierenden Wirtschaft, oft garniert mit der Bemerkung, es gehe ihnen hier immer noch besser als zu Hause. Das ist falsch. Vielmehr werden beim Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung grundlegende (Freiheits-)Rechte verletzt, die in unserem Wertekanon ganz oben stehen. Die Maßnahmen gegen Menschenhandel und Zwangsarbeit sollten diesem Stellenwert entsprechen. Dr. Philipp Schwertmann ist Koordinator des Bündnisses gegen Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung bei Arbeit und Leben Berlin e.V. und dort außerdem zuständig für transnationale Projekte zum Schutz mobiler ArbeitnehmerInnen. Erschienen in: einblick 14/2014 vom 14.7.2014 Online seit: 12.7.2014

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen