Dienstag, 12. August 2014

„Allmächtig, weil sie wahr ist“

Anmerkungen zu Lenins „Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus“ von Hannes Fellner Quelle: Kominform.at vom 09.08.2014 Vor 101 Jahren veröffentlichte Lenin seine Schrift „Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus“ [1] in der dritten Nummer des theoretischen Organs der Bolschewiki „Prosveshcheniye“ (Bildung), welche Marxens 30. Todestag gewidmet war. In ihr zeigt Lenin auf, dass der Marxismus als Synthese von Philosophie, politischer Ökonomie und Sozialismus, zu dem „Besten, was die Menschheit im 19. Jahrhundert (… ) hervorgebracht hat“ in einem Erb- und Fortsetzungsverhältnis steht. So heißt es in der Einleitung: „Die Geschichte der Philosophie und die Geschichte der Sozialwissenschaft zeigen mit aller Deutlichkeit, dass der Marxismus nichts enthält, was einem ,Sektierertum‘ im Sinne irgendeiner abgekapselten, verknöcherten Lehre ähnlich wäre, die abseits von der Heerstraße der Weltzivilisation entstanden ist. Im Gegenteil: Die ganze Genialität Marx’ besteht gerade darin, dass er auf die Fragen Antworten gegeben hat, die das fortgeschrittene Denken der Menschheit bereits gestellt hatte. Seine Lehre entstand als direkte und unmittelbare Fortsetzung der Lehren der größten Vertreter der Philosophie, der politischen Ökonomie und des Sozialismus.“ Insbesondere die klassische deutsche Philosophie, die klassische englische politische Ökonomie und der französische Sozialismus sind, so argumentiert Lenin, im Marxismus aufgehoben – in der dreifachen Hegelschen Bedeutung von „aufheben“ als negieren, bewahren, auf eine höhere Stufe heben – und genau darum nicht nur Quellen, sondern gleichzeitig Bestandteile. Lenins „Drei Quellen und drei Bestandteile“ beinhaltet einen der umstrittensten Sätze des Marxismus: „Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist.“ Seit seinem Bekanntwerden haben die Gegner des Sozialismus diesen Satz (meist aus seinem Kontext gerissen) immer wieder als Argument für den quasi-religiösen und dogmatischen Charakter des Marxismus herangezogen. Selbst nicht wenigen sich als Marxistinnen und Marxisten verstehenden Menschen war und ist diese apodiktisch scheinende Aussage Lenins nicht zuletzt angesichts der Niederlage des ersten Anlaufs zum Sozialismus in Europa nicht geheuer. Will man diesen Satz verstehen, gilt es seinen Zusammenhang zu berücksichtigen. Das ist auf der einen Seite der Text, in welchem er steht, auf der anderen Seite die im Text aufgewiesene philosophische Tradition, in welche Lenin den Marxismus zu stellen wusste. Das Wahre ist das Ganze Zunächst: Dem russischen Wort всесильный (wsesiljny) des Originals haftet nicht die religiöse Bedeutungskomponente an, die beim Erklingen des Wortes allmächtig im Deutschen mitschwingt. (Gott ist im russisch-orthodoxen Zusammenhang zwar auch allmächtig, dies wird aber gerade nicht mit dem Wort всесильный ausgedrückt). Russisch всесильный setzt sich aus все (wse) ,alle‘ und сильньій (siljny) ,stark‘ zusammen, und die bessere, aber umständlichere, deutsche Übersetzung im Zusammenhang des erwähnten Satzes in „Drei Quellen und drei Bestandteile“ – will man ungewohntes ,allstark‘ vermeiden – wäre „Die Lehre von Marx ist im Bezug auf Alles/das Ganze stark, weil sie wahr ist.“ Im Kontext von „Drei Quellen und drei Bestandteile“ bedeutet „das Ganze“ zunächst die drei „Quellen und drei Bestandteile“ des Marxismus. Philosophie, politische Ökonomie und Sozialismus sind im Marxismus nicht vereinzelte Komponenten eines Weltbildes, sondern bilden einen Zusammenhang. Die Stärke des Marxismus macht nach Lenin der Umstand aus, dass Marx und Engels nicht nur den Wissensstand der gesellschaftlich und politisch relevantesten Wissenschaftsgebiete und Ideen ihrer Zeit aufnahmen und für sich vereinzelt weiterentwickelten, sondern dass sie gerade in der Synthese dieser eine wissenschaftliche Weltanschauung entwickelten. Erfassung einer Gesellschaftsform Grundlage für Veränderung Als Philosophie will die wissenschaftliche Weltanschauung des Marxismus die Welt nicht nur interpretieren, sondern verändern. Die Möglichkeit zur Veränderung der Welt setzt zweierlei voraus: 1. Die Einsicht in die vergangene und aktuelle Entwicklung menschlicher Gesellschaft und Geschichte, also die politische Ökonomie: „Grundlage (der) wissenschaftlichen Einschätzung von historischen Prozessen ist die Einsicht, dass deren entscheidende Triebkraft die Entwicklung der Produktivkräfte in den ihnen entsprechenden Produktionsverhältnissen ist, und dass die Entwicklung der Produktivkräfte fortschreitend in Widerspruch zu dem in den Institutionen der Gesellschaft festgeschriebenen Typus von Produktionsverhältnissen gerät; die Analyse einer bestehenden gesellschaftlichen (und das heißt auch: politischen) Situation und der ihr angemessenen politischen Strategie beruht auf dieser Einsicht und schließt sowohl die Erfassung der allgemeinen Grundlage und Wesensstruktur einer Gesellschaftsformation als auch ihrer zahlreichen besonderen Durchsetzungsmechanismen und Widersprüche ein.“ [1] 2. Die Einsicht in die zukünftigen Gestaltungsmöglichkeiten menschlicher Gesellschaft und Geschichte: „Der Marxismus entwirft – als wissenschaftlicher Sozialismus – den Grundriss einer humanen Gesellschaftsordnung. Er tut dies nicht, indem er ein ausgedachtes und erhofftes Bild der Menschlichkeit utopisch auf eine zukünftige Gesellschaft projiziert, sondern indem er aufgrund der Analyse der Wesensgesetze des Geschichtsprozesses die Möglichkeiten aufzeigt, die sich als Folge der gegenwärtigen Vergesellschaftungsformen für die Zukunft ergeben. Dabei stellt sich ein Bild menschlicher Daseinsgestaltung her, von dem sich die gegenwärtige Wirklichkeit als unmenschlich abhebt. Die Einsicht in die gesellschaftlichen Gründe, die die Verwirklichung des historisch herangereiften Gattungswesens des Menschen blockieren, erlaubt es, das politische Handeln auf das Ziel dieser Verwirklichung auszurichten.“ [2] In einem weiterem Zusammenhang hat „das Ganze“, welches in dem Leninschen Wort „allmächtig“ steckt, aber eben auch explizit philosophische Bedeutung und muss mit dem Wörtchen „wahr“ im dem berüchtigten Satz zusammen gedacht und verstanden werden. In der alltäglichen wissenschaftlichen, politischen Erfahrung weist jeder Gegenstand, jeder Prozess, jedes Verhältnis über sein begrenztes Feld hinaus. Gegenstände sind in Strukturen eingebettet, Prozesse in Systeme, Verhältnisse in größere Zusammenhänge. Dem Alltagsverstand genügen die auf ihn wirkenden einzelnen Segmente der Welt, die Einzelwissenschaften sind notwendigerweise auf sie beschränkt und der politische Reformismus gefällt sich sogar in seiner Unfähigkeit, über seine eigene auf Einzelnes fixierte Begrenztheit hinaus denken oder handeln zu müssen. Wissenschaft des Gesamtzusammenhangs Eine wissenschaftliche Weltanschauung hingegen hat die Aufgabe, Teilaspekte, Ausschnitte, Segmente der Wirklichkeit auf ihre Zusammenhänge und, vermittelt über Zwischenschritte, auf das Ganze hin zu denken und dementsprechend zu handeln. Da wissenschaftliche Erkenntnisse und politische Einschätzungen über Teilaspekte, Ausschnitte, Segmente immer nur Erkenntnisse über einen Teil der Wirklichkeit sind, kommt ihnen auch nur relative Wahrheit zu, denn, wie Hegel formulierte, „das Wahre ist das Ganze“. Das Ganze ist die Welt, die als Totalität kein Gegenstand der Erfahrung sein kann, wohl aber methodisch als Begriff konstruiert und in einem begrifflichen Modell, einem philosophischen Weltentwurf abgebildet werden kann. Die Dialektik, deren Kern die Lehre vom Widerspruch mit ihren von Hegel entdeckten und formulierten Entwicklungsgesetzen bildet, mit welchen sich die Bewegung des Seins (in Natur, Gesellschaft und Denken), als Selbstbewegung aufgrund innerer Widersprüche begreifen lässt, ist im Marxismus das Konstruktionsprinzip des Gesamtzusammenhangs und somit gleichzeitig Methode und System. In diesem Sinne ist die marxistische Philosophie, wie Engels es formulierte, „Wissenschaft des Gesamtzusammenhangs“. Der Marxismus als „Wissenschaft des Gesamtzusammenhangs“ hat die Aufgabe, die sich immer erweiternde, systematisch zusammenhängende Gesamtheit wissenschaftlichen Wissens zu integrieren und zu einer politischen Handlungsanleitung zu systematisieren, was einschließt, dass er sich als spezifische Reflexionsform seiner eigenen Epoche erkennt und also nicht außerhalb der Geschichte stellt. So unterwirft der Marxismus sich selbst, seine Theoreme und Argumentation rationalen Kriterien, denen gemäß sie als allgemein nachvollziehbar und im besten Falle als zwingend erwiesen werden können. Der Weltentwurf des Marxismus lässt sich so als ein Modell von relativem Wahrheitsgehalt darstellen, das in unendlicher Annäherung an die absolute Wahrheit (die Totalität) stets wieder (selbst)kritisch aufgesprengt werden muss. Wenn Lenin nun davon spricht, dass die Lehre von Marx allmächtig, also im Bezug auf Alles/das Ganze stark ist, geht es um den philosophischen Entwurf von Welt, der, weil wissenschaftlich fundiert und begründet, seinen eigenen Platz (selbst)kritisch logisch-historisch reflektierend als Einheit von Theorie und Praxis wahr ist. Und, so könnte man ergänzen, die Lehre von Marx ist wahr, gerade weil sie sich auf Alles/das Ganze bezieht. Fehlt dem Marxismus der Bezug auf das Ganze, verliert er an Wahrheitsgehalt und damit Wirkkraft. Gerade die Vernachlässigung der philosophischen Quellen und Bestandteile des Marxismus, die Aufgabe des Anspruches „Wissenschaft des Gesamtzusammenhangs“ zu sein, hat sich historisch für Kommunistische Parteien als Orte, an welchem sich die Einheit von Theorie und Praxis in der Praxis realisieren sollte, stets als schädlich erwiesen. Diese Verarmung und Verkümmerung marxistischer Theorie war, über verschiedene Stufen vermittelt, nicht nur einer der Gründe für den Untergang des Sozialismus in Europa, sondern ist auch heute noch ein bedeutender Grund für die relative Schwäche von kommunistischen Parteien. Dass heute die Philosophie im Proletariat nicht ihre materiellen und das Proletariat in der Philosophie nicht seine geistigen Waffen findet, ist ein bedeutendes Hindernis für die Wiedererstarkung kommunistischer Parteien. Hannes Fellner ist Landesvorsitzender der PdA Wien und Vorstandsmitglied der Salzburger Gesellschaft für Dialektische Philosophie. Quellen und Anmerkungen: [1] LW, Bd.19, S. 3-9 [2] Hans Heinz Holz, Niederlage und Zukunft des Sozialismus, S. 25, (im Netz: „10 Thesen zur marxistisch-leninistischen Theorie“ http://www.tundp.info/HHH_10Thesen.htm) [3] Hans Heinz Holz, Niederlage und Zukunft des Sozialismus, S. 74 (im Netz: „Philosophisch-politische Perspektiven des Marxismus heute“ http://toposzeitschrift.de/27_holz.htm) Quellen: theoriepraxis.wordpress.com

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen