Montag, 11. August 2014

Im Gespräch mit einer brasilianischen Aktivistin

Fußball ist geil, aber… – QUELLE: DIE FREIHEITSLIEBE VOM 11. JUNI 2014 - zur besseren Lesbarkeit wurde die Schreibweise mit dem I (wie z.B. BärInnendienst, SäuferInnenwahn, ) weg korrigiert - In Brasilien beginnt die Fußballweltmeisterschaft und die ganze Aufmerksamkeit gilt den Starensembles der Nationalmannschaften, den WM Quartieren und den neuen Prachtbauten wie dem renovierten Marakana. Doch hinter den Kulissen, von vielen Journalisten völlig ignoriert, spielt sich eine soziale Katastrophe ab: Für die WM wurden hunderttausende Menschen umgesiedelt, hunderte bei Polizeieinsätzen getötet und Geld für Bildung, Gesundheit und Soziales wird dramatisch gekürzt. Wir haben mit Alessandra Lacerda über die Situation vor Ort gesprochen. Sie ist seit 2004 in der Organisation „LSR – Liberdade Socialismo e Revolução” (Freiheit, Sozialismus und Revolution) aktiv, welche in der P.SOL – Partido Socialismo e Liberdade (Partei des Sozialismus und der Freiheit) arbeitet und zum internationalen Dachverband CWI gehört. Dort hat sie sich vor allem für die StudentInnenbewegung und dem Kampf um Gleichberechtigung stark gemacht. Aktuell tourt sie durch „Europa und hilft”, die „Debatte über die Ereignisse in Brasilien” anzufachen und über die Situation vor Ort aufzuklären. Das Interview führte Daniel Radmacher. Die Freiheitsliebe: Hi Alessandra, was ist da los in Brasilien? Was passiert, was wir in Europa nicht mitbekommen? Alessandra Lacerda: Bereits seit langer Zeit ist die Unzufriedenheit der brasilianischen Arbeiter und der Jugend sehr groß, da die grundlegenden öffentlichen Dienstleistungen eine schlechte Qualität haben und jedes Jahr teurer werden. Seit 2012 haben Lehrer, Bauarbeiter, Straßen Reinigungskräfte und weitere Gruppen gestreikt, um Rechte und Verbesserungen der Arbeitsbedingungen im ganzen Land zu verbessern. Besonders in São Paulo und Rio de Janeiro, wo 2013 versucht wurde den Preis für den öffentlichen Nahverkehr zu erhöhen, kam es zu Protesten, wodurch die Regierung die Ticketpreise nicht erhöhen konnte. Die Situation in Sao Paulo erzeugte eine Atmosphäre des Kampfes im ganzen Land, aber vor allem in Großstädten: In den WM Austragungsorten sind die Proteste am stärksten, da hier viel Geld ausgegeben wird und die Korruption um sich greift, Geld, das hätte verwendet werden können für Schulen, Universitäten, Krankenhäuser usw., man hätte das Leben der Arbeiterklasse verbessern können. Die Weltmeisterscahft ist ein klares Zeichen, dass die linken Parteien auf der selben Seite stehen: Die Gesamtausgaben für die Weltmeisterschaft werden ca. 23 Milliarden Reais (ca. 11 Milliarden Dollar) überschreiten! Alleine die 12 neuen Stadien kosten den Staat 8 Milliarden Reais (4 Milliarden Dollar)! Der Großteil des Geldes stammt direkt aus öffentlichen Kassen. Ein weiterer Teil kommt aus der öffentlichen Finanzierung durch Banken. Die Business- und Regierungschefs entscheiden, wie das Geld, das die Arbeiterklasse erwirtschaftet, verteilt wird. Die Freiheitsliebe: Wie sehen die sozialen Zustände in Brasilien aus? Wieso geht der Staat so rigoros gegen die indigene Bevölkerung vor? Die Machtergreifung durch die Partido dos Trabalhadores (Die Arbeiterpartei) im Jahr 2003 war eine Reaktion der Erwerbstätigen und Erwerbslosen gegen den Neoliberalismus der Partido da Social Democracia Brasileira (Sozialdemokratische Partei Brasiliens),jedoch entwickelte sich die PT ins negative und die die Politik des Sozialabbaus, der Angriffe gegen Arbeiterinnen und Arbeiter und eine vollständige Zusammenarbeit mit der nationalen Bourgeoisie wurde erneut salonfähig. Die brasilianischen Arbeiter leben unter harten Bedingungen wie Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit, hoher Drogenkonsum, starker Armut in Großstädten, Missbrauch, Gewalt und Verfolgung gegen soziale Bewegungen durch die Militärpolizei. Ein weiteres Beispiel ist der Bau des „Belo Monte Wasserkraftwerks” im Bundesstaat Pará. Das Wasserkraftwerk wurde, gegen den Willen der dortigen Bevölkerung, an private Unternehmen versteigert. Es verschärft die Krise der Wasserverteilung und führte bis jetzt dazu, das Tausende von Hektar indigenen Landes zerstört wurden. Eine der wenigen indigenen Gruppen in Brasilien brachten ihre Empörung über die Aktionen der PT-Regierung folgend zum Ausdruck: …Die Maßnahmen beschränken den Umfang der verfassungsmäßigen Rechte der indigenen Gemeinden: Grenzen setzen, die Teilnahme an Diskussionen, Debatten und Entscheidungen über Programme und wirtschaftliche Entwicklungen, die direkt oder indirekt ihre Gemeinden, Länder, Kultur, Geschichte und ihre Zukunftsaussichten betreffen. Gleichzeitig nimmt die Geschwindigkeit und Entwicklung der Gewinne von großen Wirtschaftsunternehmen exorbitante zu… Mit dem Megaevent Weltmeisterschaft und nach mehr als zehn Jahren PT-Regierung nimmt die brasilianische Arbeiterklasse und Erwerbslosen den Kampf gegen die Angriffe durch die Regierung auf. Sie organisieren sich in sozialen Bewegungen und linken Parteien wie der Partido Socialismo e Liberdade. Es ist klar geworden, dass die Arbeiterpartei keine Alternativ ist, daher müssen wir bereit sein um eine neue Alternativ aufzuzeigen. Trotzdem bleibt es wichtig zu betonen, dass das Problem international ist und dass die Alternative nur der Kampf um ein alternatives Wirtschaftssystem ist. Die Freiheitsliebe: Warum ignoriert die brasilianische Regierung die Wünsche der Menschen? Die brasilianische Regierung, wie in vielen Ländern der Peripherie des entwickelten Kapitalismus, stützen ihre Macht auf die Mittelschicht und Superreiche, um die Gewinne für diese zu sichern. Als Teil der politischen Elite ist sie zugleich ein Teil der wirtschaftlichen Elite. Ebenso benutzen sie die politische und wirtschaftliche Macht, um durch Korruption persönlichen Gewinne zu generieren, so dass die grundlegenden Interessen der Arbeiterklasse und der Jugend ignoriert werden wie sozialer Wohnungsbau, Bildung, Gesundheit usw., da diese Investitionen natürlich keine Gewinne bringen würden. Die Freiheitsliebe: Wie steht die brasilianische Gesellschaft dazu? Gibt es Widerstand von linker Seite und ist ein WM-Boykott sinnvoll? Jetzt, ein paar Tage vor der WM , haben die Kämpfe im Land stark zugenommen. Selbst die bürgerliche Presse ist bereit, diese Tatsache anzuerkennen. Eine Umfrage der Zeitung „Folha de São Paulo”, die am 25. Mai veröffentlicht wurde, wies darauf hin, dass seit dem 31. März 296 Veranstaltungen und 153 Streiks in zehn Ballungszentren durchgeführt wurden. Natürlich ist in dieser Umfrage nicht der historische Streik der Müllmänner von Rio de Janeiro zur Karnevalssaison enthalten. Die „Kehrmaschinen” hatten um Lohnsteigerungen und Verbesserungen der Arbeitsbedingungen gekämpft und haben schließlich auch weiteren sozialen Protest ausgelöst. Lehrer der Städte São Paulo, Minas Gerais und Rio de Janeiro blieben in einem unbefristeten Streik für bessere Löhne, die Einhaltung der bereits vereinbarten Verbesserungen und für bessere Arbeitsbedingungen. Ihnen gleich taten es das Verwaltungspersonal der öffentlichen Universitäten und die Informatiker. Lehrer, Mitarbeiter und Studenten der drei Universitäten von São Paulo – USP, UNICAMP und UNESP – gingen in einen Streik auf unbestimmte Zeit. Die U-Bahnen von São Paulo, Bahia und Pernambuco, die Militärpolizei und Feuerwehr streikten ebenso. Die Zivilpolizei führte einen 24-Stunden-Streik in dreizehn Staaten durch. Die Bundespolizei hatte dieses Jahr bereits mehrere Streiks. Die Arbeiter der Waffenfarbik Itajubá -MG und weitere sind bereit den Streik wieder aufzunehmen. Arbeiter der Raffinerie Cubatao Petrobras streikten für mehr als 20 Tage um Lohnsteigerungen und bessere Arbeitsbedingungen. Die StahlarbeiterInnen von GM São José dos Campos (SP) führten einen 24-Stunden-Streik für Gewinnbeteiligung und bessere Arbeitsplatzsicherheit durch. In diesem Jahr haben die Arbeiterinnen und Arbeiter des Petrochemie-Komplex von Rio de Janeiro (Comperj) mehrmals den Ausbau des Komplexes gestoppt, um für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Zusätzlich zu diesen Streiks ist die Arbeiterbewegung in die Offensive gegangen, um ihre Forderungen Nachdruck zu verleihen. Die MTST, eine Bewegung für sozialen Wohnbau, hat am 22. Mai in São Paulo eine Großdemonstration veranstaltet, an der mehr als 20.000 Menschen teilnahmen. Für den 12. Juni – der Eröffnung der Weltmeisterschaft – sind neue Demonstrationen gegen die FIFA und die WM-Kosten und für mehr Investitionen in Gesundheit, Bildung, Verkehr und Wohnraum angekündigt. Die Freiheitsliebe: Wir danken dir für das Interview.

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