Sonntag, 10. August 2014

Vom Königsdrama zum Bankerdrama (Jochanan Trilse-Finkelstein)

Es ist kein Zufall, daß zu gegebener Zeit Stücke aufgeführt werden, die mit ihrer Zeit zu tun haben. Das zeigt, daß eine Institution ihre Verantwortung begriffen hat. Kunst und Künstler zahlreicher Epochen haben sich ihr gestellt – die archaischer Zeit den Göttern und Geistern, die der Antike den Göttern und den Helden zwischen Mythos, Polis oder Cäsaren und Khanen. Die Elisabethaner zwischen Jonson, Marlowe und Shakespeare stellten sich zuerst den Königen, spätere Stücke – von Jonson »Volpone«, Marlowe »Der Jude von Malta« oder Shakespeare »Timon von Athen« – wandten sich bereits dem Phänomen von Geld, Finanzwirtschaft und Banken zu. Das Königsdrama war noch nicht abgeschafft, da geriet das Geld- und Bankerdrama auf den Plan, was auch dann stimmt, wenn man Aristophanes‹ »Plutos« in Betracht zieht, gleich, ob im Original oder in der Gestalt, die ihm Peter Hacks mit »Der Geldgott« gab, fast schon eine Form des Banken- und Finanzdramas. Man lese solche Sätze des Dialogs zwischen Held Chremylos, der Geld durch Arbeit verdienen will, und Pluto: »Durch Arbeit verliert man das Geld ja nur./ Chremylos: Wie anders kann man denn Geld verdienen? / Pluto: Man verdient Geld nicht: Das Geld verdient sich selber./ Chremylos: Tut es das? Pluto: Verstehen Sie, nicht der Mensch arbeitet, das Geld arbeitet. […] Man mietet ein Bureau, ein Firmensiegel und eine Schreibkraft und stört es nicht bei der Arbeit. […] es bewegt sich so hierhin und dorthin, schließlich, das ist seine Sache.« So gibt Hacks über seine antike Vorlage ein wenig Unterricht in Ökonomie des Geldes, das zum Kapital geworden ist. Pluto war der Banker. Inzwischen haben wir das Bankerdrama anstelle des Königsdramas gleich in mehrfacher Gestalt: Andres Veiel schrieb 2012 »Das Himbeerreich«, inszeniert als Ko-Produktion des Schauspiels Stuttgart und des Deutschen Theaters Berlin. Der Mexikaner Mario Salazar verfaßte das Spiel »Money Burns« über einen Bankraub (wer denkt da nicht an John Gay und Bertolt Brecht), und das Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz bot sogar eine Oper zum Thema: »Tod eines Bankers« von Fabian Scheidler (Text) und Andreas Kersting (Komposition). Sicher: Schon vorher hatten einige der ganz Großen – von Boccaccio über die erwähnten Elisabethaner, Gay, ebenfalls Swift – zum Thema geschrieben; im 18./19. Jahrhundert sollte man an Goethes »Faust« denken, an »der Tragödie II. Teil«, Szene am Kaiserhof – Mephisto führt das Papiergeld ein, um Staatsschulden des Kaisers zu bezahlen. Goethe, der Zeitbeobachter, hatte schon viel begriffen. Die Engländer hatten zu dieser Zeit bereits große Ökonomen: Adam Smith, dem es um die Ursachen der Reichtumsbildung gegangen war, David Ricardo, der sich stärker den Verteilungsfragen zugewandt hatte, außerdem die Brüder Mill, Jeremias Bentham, Thomas Robert Malthus, von denen Karl Marx nicht weit entfernt war, angeregt von Ricardo, kritisch den andern gegenüber. Im 19. Jahrhundert ist deren – allerdings poetischer – Zeitgenosse Heinrich Heine, wenn auch nur äußerst begrenzt im Drama, Kenner von Geld und seinem Kreislauf. Sein Bild von den tropfenden Zinsen im Meisterwerk »Lutezia« gehört zum Besten, was Poesie zur schnöden Materie überhaupt geben kann: »Hier in Frankreich herrscht gegenwärtig die größte Ruhe. […] Nur ein leiser monotoner Tropfenfall. Das sind die Zinsen die fortlaufend hinabträufeln in die Capitalien, welche beständig anschwellen; man hört ordentlich wie sie wachsen, die Reichthümer der Reichen. Dazwischen das leise Schluchzen der Armuth. Manchmal klirrt auch etwas, wie ein Messer das gewetzt wird.« (4. Dezember 1842, histor. Schreibweise) Sehr genau diese Metaphern für die Nervenzentren des Kapitalismus, für Banken und die Börse. Und noch einer muß in diesem Zusammenhang genannt werden: Richard Wagner, der mit dem musikalischen Epos »Der Ring des Nibelungen« das geleistet hat, was die deutsche Literatur jener Zeit eben nicht brachte: die Verknotung von Geld, Macht und allem Unglück bis zum möglichen Untergang zumindest der Herrschenden im großen Roman. Im 19. Jahrhundert ist außerdem Balzac von diesem Thema nicht wegzudenken, weniger im dramatischen Genre als im epischen. Dafür hatte Rußland dann einen Dramatiker von Format, Alexander Ostrowski – da fällt als erstes Werk »Der Wald« ein, Tschechow »Der Kirschgarten« dann auch. Das 20. Jahrhundert brachte Deutschlands Dramatiker auf das Thema: Georg Kaiser (»Gas I, Gas II«, »Mississippi«, »Der Silbersee«) und Carl Sternheim (»Der Snob«, »Die Hose«, »Die Kassette«) wären zu nennen und schließlich Brecht, der gleich mit Opern eigener Art:»Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« und »Die Dreigroschenoper« nach John Gay und Pepusch »The Beggar’s Opera« aufgetreten ist, worin gleich alle denkbaren Unarten und Verbrechen des späten Kapitalismus auf grotesk-satirische Weise dar- und vorgestellt werden: »Meine Damen und Herren. Sie sehen den untergehenden Vertreter eines untergehenden Standes. Wir kleinen bürgerlichen Handwerker, die wir mit dem biederen Brecheisen an den Nickelkassen der kleinen Ladenbesitzer arbeiten, werden von den Großunternehmern verschlungen, hinter denen die Banken stehen. Was ist ein Dietrich gegen eine Aktie? Was ist der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank? Was ist die Ermordung eines Mannes gegen die Einstellung eines Mannes?« So steigert sich Macheath in der »Abbitte«-Ballade zu brutalem Gewaltausdruck: »Man schlage ihnen ihre Fressen/-Mit schweren Eisenhämmern ein.« (»Die Dreigroschenoper« III/3) Hier traf der dramatische Meister des 20. Jahrhunderts – sogar im leichten, von ihm so gar nicht sehr geliebten Genre – die Wahrheit. Doch Serien von Banker-Opern beziehungsweise -Stücken gab es vorerst nicht, der antifaschistische Kampf gegen NS-Faschismus und imperialistischen Krieg stand für Jahrzehnte, später der Wiederaufbau im Vordergrund. Aber dann, als sich der Kapitalismus so richtig entfaltet hatte, mit allen Ressourcen, kamen sie! Noch stärker, als ihm zunächst der Sieg im kalten Krieg gegen die UdSSR und den sozialistischen Block gelungen war, da kamen unsere neuen Stücke, sie hatten ihren Grund. Der sozial und politisch bewußte und erfahrene Film- und Theatermacher Veiel (Jg. 1959), begann schon vor Jahren Gespräche mit einflußreichen Bankern und erlangte einigen Einblick in das Banken- und Finanzsystem, bald Durchsicht. Die Finanzkrise traf ihn nicht unvorbereitet. Er führte in den folgenden Jahren etwa 25 Gespräche mit einschlägigen und hochkarätigen Vertretern des Bankfaches: So entstand »Das Himbeerreich« – 1400 Seiten Material, aus dem 40 Seiten Text für ein Sechs-Personen-Stück wurden. Susanne Marie Wrage, Joachim Bißmeier, Manfred Andrae, Sebastian Kowski, Jürgen Huth und Ulrich Matthes, der die gewichtigste Aussage hat, spielen. Veiel selbst hat Regie geführt, nicht die beste Idee; Julia Kaschlinski entwarf einen halbdunklen Bühnenraum mit einer Art technischem Gerät und liftähnlichen Glaskästen, in denen einige der Personen auf und ab gefahren werden. Mir taten die Schauspieler leid: Sie sprachen eine plakative Wort- und Thesensammlung – von Spiel konnte keine Rede sein –, die zwar außerordentlich informativ, als dramatische Rede aber schlechter nicht sein konnte. Es gab kaum Dialog, alle hielten Monologe, sagten Statements auf. Eine ästhetische Absicht, diese Figuren dialogunfähig zu gestalten, kam nicht heraus! Die Schauspieler standen herum, gingen mal nach vorn, mal nach hinten, die Herren meist die Hände in den Hosentaschen. Einige versuchten eine Art Rechtfertigung ihres Tuns, besonders im zweiten Teil. Mir fällt es schwer, es zu sagen, weil das Thema beziehungsweise seine kritische Behandlung so wichtig sind: Es ist ein schlechtes Stück. Es erging Veiel so wie auch anderen Autoren bei neuen sozialen Sujets und politischen Themen: Sie sind Pioniere, die etwas erproben und dabei Mißerfolge einstecken müssen. Mich erinnerte es an frühe Stücke der Aufklärung (Gottsched) oder an schlechten sozialistischen Realismus, als mit Thesen oder Thesenstücken etwas gezeigt werden sollte, was kaum sichtbar war: eine verteilungsgerechtere Gesellschaft. Vom guten Zeitstück oder gar Drama war man noch weit entfernt. Hier freilich auch! Am besten hatte es Ulrich Matthes – er hatte als G. W. Kastein den stärksten Text. Da wird es handfest, da kommen Uganda, Griechenland, Zypern, die Schweiz und schließlich Europa zur Sprache, es geht zur Sache: zu Goldman Sachs, dieser Verursacher-Weltbank mit dem »Computer auf den Cayman Islands«: diese »gigantische Umverteilungsmaschine«, die »Billionen Schulden« verursacht und das Elend der vielen, der Kleinen, der Besitzlosen: »Warum wird da niemand wütend? Die eigentlichen Fragen werden nicht gestellt.« Das schrie er fast heraus, ganz vorn an der Rampe – aus dem Theatron kam nichts! Im geistigen Hintergrund stand das »Empört euch!« des verstorbenen Stéphane Hessel. Mit dem Stück »Money burns« von Salazar, können wir uns kürzer fassen (es lief nicht lang im Gorki-Studio): Hier geht es nicht so sehr um die Banken selbst, sondern um einen Bankeinbruch, noch dazu um einen nur versuchten. Die zwei vorbestraften Räuber meinen, in der Bank zum Glück zu kommen, begreifen aber, daß es in und hinter dem Institut kein Glück geben kann. An die Stelle des Geldes wird Liebe gesetzt, doch auch die kann sich nicht erfüllen, die Bank bestimmt die Sphäre der Gesellschaft. Die Hoffnung … – es bleibt unentschieden – stirbt oder bleibt sie? Kein gutes Stück, kein Äquivalent zum »Himbeerreich«, aber ein Gegenentwurf. Doch auch hier war wenig von Regie (Romero Nunes) zu spüren. Ist das Regisseurtheater – seit etwa zwei Jahrzehnten quälende Erscheinung einer Perversion – am Ende? Das wäre ein kleiner Trost. Auf zur Oper! »Tod eines Bankers« in Görlitz. Sie »spielt zum einen in dem fiktiven Land Ionien, zum anderen in einer europäischen Finanzmetropole«, so steht es im Libretto. Das Land könnte Griechenland heißen, denn es ist von der ›Akropolis« die Rede, genannt ›Bergstadt«. Andererseits wird mehrfach vom »Tempelberg« gesprochen. Also kommt auch der heilige Berg bei Jerusalem in Betracht, Zentrum und Ausgangspunkt abrahamitischer Kulturen oder Religionen, frühzeitiger Erkenntnismodelle, die zusammen mit dem Griechenerbe und in schwersten Konflikten Europas Kultur geprägt haben, zumindest die des geistigen Überbaus – ökonomische, politische und soziale Kämpfe der Basis freilich stets mitdenkend. Die beiden Heldinnen heißen entsprechend Dalilah Samsa, was eindeutig auf das biblisch-antike Paar »Samson und Dalila« zielt, und Athina, deren Großmutter – da ist Pallas Athene nicht weit. Während Athinas Traditionslinie eher einspurig verläuft, ist die Dalilas vielsträngig. Bei Scheidler/Kersting in Görlitz erhebt sich Dalilah zur Revolutionärin. Obwohl moralische Siegerin, verschwindet sie lange von der Szene. Die handelnde Hauptfigur heißt Lundt, ist Jungunternehmer und »Leiter der Abteilung ›Credit Trading‹ einer großen Investmentbank«. Ein Vorsitzender der Bank heißt Viktor Mann. Dieser trifft eine ungeheure Aussage gegenüber dem Präsidenten: »Wir stehen vor der Kernschmelze des Weltfinanzsystems.« Ein Bild aus der Atomphysik für die ökonomische Basis des inzwischen global gewordenen Systems – Metapher der Zerstörung! Lundt hat weitestgehend mitgemacht, doch tritt er angesichts der Katastrophe und eines Restes seines Humanums auf die Bremse, macht sich Feinde unter seinesgleichen und wird ermordet. Eine aristokratische Oberfigur, Prinz genannt, verkündet eine Art Evangelium des Marktes und beauftragt Dennis Lundt, dieses dem Volke zu erklären, sozusagen als gottgewollt. Genau dies kann Lundt aus Einsicht in das Falsche nicht mehr. Dalilah hat seine Erkenntniswende ausgelöst. Ist Lundt eine Art Hamlet, dem System verhaftet, es retten wollend, daran zugrunde gehend – an der Macht der noch Mächtigeren, die es halten wollen? Dalilah versucht ihn zu retten – vergeblich. Beide scheitern, mit ihnen eine angebahnte Revolution! Das Werk ist eine tragische Choroper, verbindet die Funktion des Chores der attischen Tragödie mit der modernen Oper, hier in Gestalt von Engeln. Sie kommentieren – eingreifend. Eine Nebenfigur wie die Zeitungsverkäuferin tritt mit der Variation des berühmten Brecht-Satzes aus der »Dreigroschenoper« auf: »Was ist schon der Diebstahl einer Börse/ gegen die Eröffnung einer Börse?« Die Musik tut sich schwer und macht es dem Publikum nicht leicht. Sangbarkeit hat niemand erwartet. Die oft spröden Texte lassen die Mühe des Komponierens spüren, auch des Singens. Die Disharmonien und oft stark verringerten Töne oder deren Stufungen bis zu Viertel- und Achteltönen sind kaum mehr für ein normales Ohr zu trennen; doch die konflikt- und widerspruchsreiche Konstellation der Story gibt diese Partitur in ihrer Fast-Nicht-Entwirrbarkeit durchaus erkenntnisreich wieder, genauer: Sie erhellt – freilich in Zusammenarbeit mit der Szene und der sorgsamen Regie – nicht ohne Anspruch ans Publikum! Hausherr, Generalintendant Arauner, hat wohltuend, ohne Mätzchen des Regisseurtheaters, mit Ausstatterin Britta Bremer Handlungsräume gebaut, die Zeit indes vom Orchester bestimmen lassen (Neue Lausitzer Philharmonie unter Ulrich Kern). Die sich dynamisch bewegenden Menschengruppen teilen Chor und Tanzcompany unter sich auf – die zwölf Solisten geben das Ihre hinzu, genannt seien nur Yvonne Reich (Dalilah), Noa Frenkel (Athina) und Jan Novotny (Lundt) – den Möglichkeiten des Mitteltheaters entsprechend gaben sie Erstaunliches. Insgesamt sah ich ein Gesamtkunstwerk, das heißt, man kann zufrieden sein mit der Ausgeglichenheit aller beteiligten Solisten und Gruppen, es gab keine Ausfälle, es gab ein Ensemble. Besonders betont sei die Bereitschaft, sich diesem brutalen Stoff zu stellen – Oper als Zeittheater – so aktuell wie sonst nur Schauspiel. Damit macht man sich nicht nur Freunde, besonders unter potentiellen Geldgebern. Dafür bei einer kritisch-aufmerksamen Öffentlichkeit!

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