Montag, 8. August 2016

Weißbuch der Bundeswehr



 IMI-Analyse 2016/031
Bittere Pille für den Frieden?
Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr
http://www.imi-online.de/2016/08/01/bittere-pille-fuer-den-frieden/
Andreas Seifert (1. August 2016)

10 Jahre hat man warten müssen, bis das neue Weißbuch letztlich am 13.
Juli erschien.[1] Dabei gab es schon seit über einem Jahr vorsichtige
Versuche, Ideen in einer Debatte zu platzieren, die sich den Anschein
eines Beteiligungsprozesses gab [2], wie jüngst die Vorstellung einer
Europäischen Globalstrategie (28.6.2016) [3] und, unmittelbar vor
Veröffentlichung des Weißbuches, die Abschlusserklärung des NATO-Gipfels
in Warschau (9.7.2016) [4]. Der zeitliche Vor- und Ablauf hat die
Erwartungen an das Weißbuch steigen lassen.

Das Weißbuch, so der eigene Anspruch, soll Auskunft über die Ziele und
Inhalte der deutschen Sicherheitspolitik geben. Es soll aufklären, wo
die deutsche Regierung ihre Handlungsfelder sieht und mit welchen
Maßnahmen sie ihre Interessen zu erfüllen gedenkt. Es wird federführend
vom Verteidigungsministerium erstellt und mit anderen Ressorts
abgesprochen, bevor es als Dokument der Regierung im Kabinett
verabschiedet und veröffentlicht wird. Das Weißbuch soll die Grundlage
weiterer Feinplanungen für die Bundeswehr sein. Als Strategiedokument
gedacht ist das Weißbuch 2016 aber wohl mehr eine PR-Broschüre geworden,
die vieles wiederholt und nur wenig Konkretes bereit hält. Im Folgenden
sollen ein paar Schlaglichter gesetzt werden.

Sprachlicher Verpackungsmüll

Es gibt ein herausstechendes Merkmal – geradezu ein
Alleinstellungsmerkmal – des Weißbuches: Es wirkt nicht nur wie eine
überlange Rede der Ministerin selbst, es ist auch in weiten Strecken
nicht viel mehr als die Wiederholung ihrer ureigenen Floskeln während
des letzten halben Jahres. Jede*r aufmerksame Beobachter*in des
Weißbuchprozesses findet in dem nun vorliegenden Text die Formulierungen
ihrer ureigenen Zusammenfassungen der unterschiedlichen Workshops und
Panels wieder. Im Duktus einer Unternehmensberaterin, die möglichst
viele der vorgegebenen Stichwörter in einen Text packen möchte, ohne
sich nach Möglichkeit irgendwo dazwischen selbst zu platzieren, wird
durch die Themen geeiert und bereits vorher Beschlossenes als „Ergebnis“
einer Debatte präsentiert. Da werden Dinge wie „unter einem Brennglas“
gesehen, es sollen Konzepte und Argumente in „inklusiven
Beteiligungsprozessen“ „geschärft“ werden, es werden
„Hochwertfähigkeiten beübt“, „Lieferketten gehärtet“,
„Wirkungsüberlegenheit erzielt“, mit „Ressourcenneuzuordnung“ werden
„innovative Wege gegangen“ etc. Dergleichen Berater*innensprech mag
„offen“ und „andockfähig“ für all jene klingen, die ihre Agenda in dem
Papier wiedererkennen wollen (oder müssen), macht es aber doch der*dem
ein oder anderen schwer, sich vorbehaltlos hinter das Papier zu werfen.
Der „Arbeitskreis Darmstädter Signal – die kritischen Soldaten“ geht zum
Beispiel in seiner Stellungnahme so weit, den Weißbuchprozess als
„PR-Coup“ zu bezeichnen und will mit einer eigenen Webseite einen
tatsächlich offenen Debattenprozess anstoßen.[5]

Die gewählte Sprache hat bei aller Verschrobenheit eine ganz klare
Funktion, sie soll Rationalität und die einheitliche Durchdringung aller
angesprochenen Themenbereiche verdeutlichen. Sie soll den Anschein von
Konkretisierung erwecken, wo man in den Planungen selbst vielleicht noch
gar nicht so weit ist bzw. über die konkrete Ausgestaltung, auch wenn
sie schon fest liegt, keine Aussage treffen will. Für das „Konkrete“, so
mag man unterstellen, gibt es angesichts dessen, dass es sich hier um
ein Dokument der Diplomatie handelt, gewisse Grenzen; dennoch sucht man
selbst die Bereiche vergeblich, die in vergangenen Weißbüchern als
obligatorisch galten. So fehlen z.B. alle relevanten Kennziffern –
die*der Bürger*in, wie die*der Diplomat*in, sucht vergeblich nach der
Zahl der Soldat*innen, der Zahl von (einsatzfähigen) Großgeräten, der
Zielgröße eines „adäquaten“ Etats etc. – die helfen könnten, die
eingeleitete Trendwende (WB S.117, 119) zu verstehen. Hier für Klarheit
zu sorgen, bleibt wohl anderen, noch kommenden Dokumenten vorbehalten
(WB S.15).

Drei Dokumente – eine Richtung

Ein zweites Merkmal dieses Weißbuches: Es steht nicht alleine da,
sondern im Kontext der von EU und NATO beschlossenen Papiere und der in
Deutschland unter dem Slogan „Neue Macht – Neue Verantwortung“ geführten
Debatte zu dem auch das vom Auswärtigen Amt geführte „Review 2014“
gehört. Das beinhaltet auch die inzwischen mit dem Label
„Münchener-Konsens“ zusammengefasste Grundidee, also die „neue“ (sprich:
oftmals militärische) Verantwortung, die Deutschland in der Welt
wahrnehmen müsse, die ein Instrumentarium benötigt, das von
diplomatischen und entwicklungspolitischen Maßnahmen über Sanktionen und
Ertüchtigung bis zum „robusten Einsatz“ reicht.

Während der erste Teil des Weißbuches zur Sicherheitspolitik
Deutschlands in vielfachen Anleihen eine Analyse des politischen
Umfeldes und deutscher strategischer Prioritäten betreibt und
Handlungsfelder identifiziert, wird im zweiten Teil auf die Konsequenzen
für die Bundeswehr eingegangen. Der im letzten Weißbuch umstrittene
Verweis auf die „Abhängigkeit“ Deutschlands von internationalen
Handelsrouten, Energieressourcen und Rohstoffen ist zwar immer noch
enthalten fällt aber angesichts der breitest angelegten Bedrohungen,
denen sich Deutschland heute gegenüber sieht, kaum weiter auf – auch
wenn auch diesmal die Frage, welche Rolle dabei die Bundeswehr spielen
soll, unbeantwortet bleibt. Die Breite der „Bedrohungen“, die von
Terrorismus, Cyberangriffen, fragilen Staaten über Migration bis
Klimawandel reichen, deuten auf einen breit angelegten
Sicherheitsbegriff hin, der sich kaum konkret mit den Mitteln des
Militärs bearbeiten lässt. Scheinbar fügt sich also das Militär in seine
Rolle als ein „Dienstleister“ im „Instrumentarium“ deutscher
Sicherheitspolitik ein – doch mit einer nachgeordneten Rolle mag man
sich dann doch nicht begnügen.

Vernetzter Ansatz – Resilienz – Hybride Kriegsführung?

Mit drei Zauberworten spielt sich die Bundeswehr wieder in die erste
Reihe und sieht sich geradezu als federführend in der Gewährleistung
unserer Sicherheit in allen Gebieten. Ausgangspunkt ist dabei die als
unmittelbare Erfahrung interpretierte „Hybride Kriegsführung“ Russlands
in der Ukraine und im Kontext des Konfliktes. Generalisierend setzen
„Hybride Bedrohungen“, so das Weißbuch (S.39), an den Schwachpunkten
demokratischer und offener Gesellschaften an und versuchen durch
Propaganda, Cyberangriffe, finanzielle Operationen oder politische
Destabilisierung, aber auch durch verdeckte militärische Operationen,
unterhalb völkerrechtlicher Relevanz, das Land zu beeinflussen:
„Hybrides Vorgehen verwischt die Grenzen zwischen Krieg und Frieden.“
Dem kann man nur begegnen, wenn eine „umfassende Verteidigungsfähigkeit“
ausgebaut wird, so das Weißbuch. Der schon unter den Vorgängern von Frau
von der Leyen entwickelte Vernetzte Ansatz, der die enge Kooperation
ziviler mit militärischen Stellen vorsieht, wird damit in neue Höhe
geschraubt. So will man in „geeigneten“ ressortübergreifenden
Institutionen letztlich in allen Feldern mitspielen. Die inzwischen beim
Außenministerium angesiedelte Entwicklungshilfe, wie auch die
Cyberabwehr, die (derzeit) dem Innenministerium zugeordnet ist, sind
Felder, in denen das Verteidigungsministerium und die Bundeswehr künftig
mitmischen wollen. Sie möchten dabei nicht nur partizipieren, sondern
auch ihre „Kompetenzen“ einbringen, die ggf. auch erst geschaffen werden
müssen (z.B. Expertise). Vorläufiger Dreh- und Angelpunkt soll dabei der
Bundessicherheitsrat werden, der als Gremium gestärkt werden und
zukünftig wohl als Plattform der Kommunikation zwischen den relevanten
Ressorts dienen soll (WB S.57). Die keineswegs beiläufige Erwähnung
sollte aufhorchen lassen – zumal deutlich wird, dass auch die
„notwendigen“ Ad-hoc-Entscheidungen und Bündnisse (sprich:
Kriegseinsätze) hier beschlossen werden sollen. Der Vernetzte Ansatz
soll aber nicht nur als Durchdringung der Bundesverwaltung und ihrer
Institutionen verstanden werden, sondern sich weiter in die Gesellschaft
und Ökonomie entwickeln: „Gemeinsame Ausbildung und Übungen von
staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren für das Handeln im gesamten
Krisenzyklus [soll] gefördert werden“ (WB S.59). Das damit geschaffene
„Verständnis“ füreinander lässt sich leicht auch als Militarisierung der
Gesellschaft deuten, die sich als Versicherheitlichung tarnt, alle
betrifft, aber nur wenige Akteure umfassen wird, also anti-demokratische
Züge trägt. Ziel ist es, die Widerstandsfähigkeit (Resilienz) der
gesamten Gesellschaft zu erhöhen und auszubauen. In der Konsequenz
bedeutet dies, dass die schon bekannte
„Zivil-Militärische-Zusammenarbeit“ im Rahmen des „Vernetzten Ansatzes“
zu defensiven (und offensiven?) Fähigkeiten zum hybriden Kriegseinsatz
ausgebaut werden soll – inklusive des Einsatzes im Inneren (WB S.92/93,
110).

Besonders relevant wird dies für den Bereich der Cybersicherheit, der im
Weißbuch breiten Raum einnimmt (WB S.36-38, 50, 60, 82, 93, …). Soziale
Medien als Informations- und Kommunikationsplattform sind besonders
anfällig, die hochkomplexen Gesellschaften und ihre Wirtschaft durch
ihre Vernetzung gefährdet, die Daten aller Menschen virulent – kurzum:
Cyberraum ist das(!) Feld der Verteidigung der Zukunft. Bereits mit der
Ankündigung eines Workshops in der Vorbereitungsphase des Weißbuches
wurde dieser Bereich hervorgehoben und mit einer parallel angelaufenen
Werbekampagne zur Anwerbung von IT-Experten für die Bundeswehr, mit der
Aufstellung einer eigenen Einheit und mit der Zusammenfassung aller
betrauten Dienststellen unter dem Kommando der Staatssekretärin Suder
wurden hier auch schon Entscheidungen getroffen, die das Weißbuch
allerdings nur unzureichend wiedergibt. Das Ministerium sieht hierin nur
eine notwendige Konsequenz und einen überfälligen Schritt, andere sehen
darin weit mehr den Anfang vom Ende eines wie auch immer von seinen
Nutzern frei zu gestaltenden Internet. Die Gefahr, die hiervon ausgeht,
wird sogar beschrieben: Die „Natur“ des Internet und der digitalen
Kommunikation setzt klassischen Methoden der Zuschreibung kriegerischer
oder aggressiver Handlungen Grenzen, die Konstruktion und
„Verletzlichkeit“ moderner Systeme, auf denen unser Leben zu großen
Teilen fußt, ihrem „Schutz“ ebenfalls. D.h. letztlich weiß man um die
Grenzen solcher Initiativen, will aber auf alle Fälle dabei sein und
rüstet nun massiv auf. Dass man damit Angriffe nicht verhindern kann und
umgekehrt die Kapazitäten schafft, die zum Anlass der Gegenwehr dienen
können, wird billigend in Kauf genommen. Für Nutzer*innen hier bedeutet
es jedoch einen weiteren Player im Netz zu wissen, der Freiheit
beschneiden will. Vielleicht schließt sich die Bundesregierung damit
ungewollt den „Nationalisierungstendenzen“ des VR-chinesischen
Staatspräsidenten Xi Jinping an, der für das chinesische Internet
„Souveränität“ fordert und damit nicht nur alle anderen „Draußen“ halten
will, sondern die eigenen Bürger*innen damit auch erfolgreich einsperrt.

Ertüchtigung und Ad-Hoc Rahmennation

Bemerkenswert in diesem Zusammenhang sind die Bestrebungen der Regierung
Deutschlands, sich in Europa weiter als starker Partner und Impulsgeber
zu verorten. Dabei läuft unter dem Stichwort „Ertüchtigung“ (WB S. 52)
das fort, was bereits mit der Merkel-Doktrin begonnen wurde, nämlich
„Partner“ zu befähigen, „ihre“ Probleme selbst zu lösen, indem man ihnen
bei Konzeption, Aufbau und Ausstattung effektiver Sicherheits- und
Repressionsapparate hilft. „Ertüchtigung“ sollte dabei durchaus auch bei
allem Bejubeln als das kleinlaute Eingeständnis der tatsächlichen
Beschränktheit eigener Einflussmöglichkeiten gewertet werden. Hier ist
es die Bundesregierung, die eine „Entgrenzung“ betreibt, die sie anderen
gern vorwirft: Die Hilfe beschränkt sich längst nicht mehr nur auf
Staaten, sondern auch nicht-staatliche Akteure können auf die
finanzielle, waffentechnische oder Ausbildungshilfe hoffen, die man
offeriert. Das Spektrum der „Ertüchtigung“ umfasst aber auch zivile
Maßnahmen: Es wirken alle möglichen Instrumente aus dem Baukasten
deutscher Außen- und Sicherheitspolitik.

Als „Rahmennation“ innerhalb der NATO möchte die Ministerin überdies den
eigenen Gestaltungsanspruch ausdehnen und anderen (kleineren) Staaten
ermöglichen, sich „zum Nutzen aller“ einzubringen (WB S.68). Deutschland
übernimmt hier nur allzu gern die „Führung“ und verbindet gleich den
Wunsch damit, dass die anderen Staaten doch (bitteschön) ihre
Aufrüstungswünsche mit dem Berliner Ministerium absprechen. Dass dabei
auch noch gleich der europäische Gedanke untermauert wird und der
europäische Pfeiler innerhalb der NATO aufgewertet wird, ist ein
positiver Nebeneffekt. Ein anderer ist dann wie zufällig auch, dass dies
auch einer der Bausteine ist, mit denen man die europäische
Rüstungsindustrie effizienter weiterentwickeln möchte … unter deutscher
Führung.

Dazu passend analysiert die Regierung, dass es immer öfter zur
Ad-hoc-Kooperation kommen wird, an denen sich Deutschland beteiligen
wird, um seinen Gestaltungsspielraum zu wahren (WB S.81). Auf dem
politischen Parkett ist dies schon oft der Fall, aber auch im
militärischen Bereich wird es hierzu immer häufiger kommen. Im
Zusammenhang mit den Auslandseinsätzen ist dies unter dem Aspekt des
Parlamentsbeteiligungsgesetzes ein durchaus strittiger Punkt, den das
Weißbuch lieber allgemein in einen anderen Absatz schreibt als genau in
den Teil zur Parlamentsbeteiligung. Kurzum: das Ministerium hält den
rechtlichen Rahmen seiner Einsätze für zu eng und will diesen erweitern.
Als Gründe hierfür werden mal wieder die kurzen Reaktionszeiten
angeführt oder auch, dass es qua „Einladung“ durch den von einer Krise
betroffenen Staat letztlich keiner völkerrechtlichen Legitimation durch
ein System kollektiver Sicherheit (UNO) mehr bedarf. Letztlich
argumentiert das Ministerium, dass die Vorgabe durch den Bundestag
mandatiert zu werden im Widerspruch zur „gestiegenen Verantwortung“
Deutschlands stehe und überprüft werden müsse.

Mehr … von Allem
Mehr Personal – Mehr Waffen – Mehr Geld!

Der zweite Teil des Weißbuches entwickelt aus der Analyse des ersten
Teiles unmittelbare und weitreichende Folgerungen für die Bundeswehr,
unterlässt es aber, hierbei allzu konkret zu werden. Weder die bereits
angedeutete Umgruppierung aller mit Informationstechnologie betrauten
Dienstposten unter eine neue Führung tauchen darin auf, noch
irgendwelche konkreten Zahlen sind zu finden. Das langfristige Ziel, den
Verteidigungshaushalt auf die von der NATO angeregten 2 % anzuheben,
bleibt als Absicht bestehen; was aber mit dem zusätzlichen Geld
passieren soll, bleibt der Interpretation der Leser*innen überlassen. So
mag vielleicht die Rüstungsindustrie herauslesen, dass „endlich“ wieder
mehr Geld für „Investitionen“ (Waffen) ausgegeben wird, mag der
Bundeswehrverband endlich die lang eingeklagten Solderhöhungen oder
umfangreichere Mannschaftsstärken wiederfinden oder die*der
Gleichstellungsbeauftragte endlich den lang überfälligen Verweis auf die
Inklusion (WB S.123) finden, doch bleibt dies gleichsam wenig
unterfüttert. Die lange Liste mit Aufgaben, zu denen nun wieder die
verstärkte Landesverteidigung gehört, auch das fortgesetzte und
vermehrte internationale Engagement und die die massiv auszuweitenden
Aufgaben im Heimatschutz, all dies braucht mehr Geld, doch wie es
letztlich verteilt wird, bleibt offen.

Es gibt umgekehrt aber schon ein paar interessante Bemerkungen, die
konsequent aus dem Vernetzten Ansatz heraus entwickelt werden und einen
Hinweis auf zukünftiges Vorgehen in sich bergen. So ist die an
verschiedenen Stellen angesprochene „Durchlässigkeit“ zur Wirtschaft
wohl als der Versuch zu werten, nicht nur an die bereits bekannten (und
zum Teil nicht erfolgreichen) Betreiberlösungen zu denken, sondern sich
verstärkt der zeitweisen oder auch projekt- und einsatzbezogenen
Integration von Personal aus der Wirtschaft zuzuwenden. Dies würde
sowohl die Hierarchien und Besoldungsstrukturen verändern, wie auch neue
Prozessabläufe erfordern. Vorbild könnte hier die durch
Beraterunternehmen verstärkte Beschaffung sein, die man als modernes
Rüstungsmanagement lobt und als Vorbereitung für eine flexible,
zukunftsfähige Lösung ausbauen möchte. Ob die teure Beteiligung von
Wirtschaftsberatern allerdings mehr als nur die Produktion von
Risikobewertungen („Transparenzkultur“, WB S.132) bringt, sei
dahingestellt und ist bisher auch nicht bewiesen. Eine Öffnung der
Bundeswehr in die Privatwirtschaft wäre aber auch in dem Feld denkbar,
in dem es der Bundeswehr schwer fällt, adäquates Personal zu
rekrutieren: z.B. dem IT-Bereich.

Ein anderer, nicht unspannender Punkt ist die Sicherstellung der von der
Regierung als notwendige Basis begriffenen wehrindustriellen
Kompetenzen. Hier will man nicht nur zukünftig, wie bisher auch, der
Industrie mit Aufträgen und Hilfestellungen beim Export beiseite stehen,
sondern man sieht sich auch in der Pflicht, die technologischen
Grundlagen verstärkt abzusichern. Die bisher schon erbrachte Forschungs-
und Entwicklungsleistung sollte fortgeführt aber, unter dem Eindruck der
Veränderungen in der Forschungsorganisation und im Forschungsablauf
allgemein, auch angepasst werden. Dies bedeutet einerseits, dass man an
den Forschungs- und Entwicklungsleistungen anderer schneller
partizipieren will, als dies in den bisherigen Strukturen möglich ist,
wo die Bundeswehr erst spät als potentieller Nutzer der Technologie mit
ihr in Berührung kommt. Andererseits möchte man selbst als Motor hinter
solchen Entwicklungen stehen, indem z.B. Startups gefördert werden, oder
man, z.B. über eine Agentur, gezielt Forschungsimpulse setzt. D.h. hier
versucht das Ministerium genau in die Lücke vorzudringen, die die kaum
adäquate Forschungs- und Hochschulfinanzierung gebildet hat – wer
Schlimmes befürchtet, mag sich an die DARPA [6] erinnert fühlen, die in
den USA als inzwischen eine der wichtigsten Forschungsfinanzier*innen
auftritt. Flankiert wird dies wiederum mit der Ankündigung, dass man
„gemeinsam mit dem Parlament eine Debatte über eine neue
Risikomanagementkultur führen [will], die mit anspruchsvolleren
Entwicklungen einhergeht“ (WB S.132). Es bewahrheitet sich in gewisser
Weise das, was von Kritiker*innen schon seit längerem befürchtet wurde:
Die Militarisierung der Forschungs- und Hochschullandschaft setzt sich
fort und notorisch unterfinanzierte Forscher*innen bekommen Gelegenheit,
patriotisch zu handeln. Mit Geld natürlich, was für eine tatsächliche
und ernst gemeinte forschungsbasierte Risiko- und Krisenvorsorge dann
aber fehlen wird.

Fazit

Das Weißbuch 2016 löst den 10 Jahre alten Vorgänger ab und passt die
Inhalte der Zeit an – es vollzieht die Salamitaktik des letzten
Jahrzehnts nach und tut so, als ob das alles so sein müsste: Ausweitung
der Auslandseinsätze, Bundeswehr in mehr und mehr Lebensbereichen,
fortgesetzte Verschwendung für überteuerte Rüstung, alles kein Problem
und mit dem globalen Geltungsanspruch Deutschlands vereinbar.

Bereits im Vorfeld des Erscheinungstermins und im Zuge der Debatte gab
es Kritik an der Grundidee eines Weißbuches, die es als überholtes
Format oder auch als schädlich für eine offene Debatte ansehen.[7] Der
Vorwurf, es kann schon allein deshalb keine positiven, zukunftsfähigen
Sicherheitskonzepte entwickeln, weil der Fokus der Autor*innen (des
Verteidigungsministeriums) zu eng auf militärischen und gewaltbasierten
Lösungsmechanismen liegt, konterte das Ministerium mit dem Begriff der
„menschlichen Sicherheit“. Leider hat sich diese Annahme der
Kritiker*innen in großen Teilen bewahrheitet.

Umgekehrt macht es wenig Sinn, sich konstruktiv mit dem Weißbuch
auseinander zu setzen, denn dies bestätigt nur seine selbst
zugeschriebene Relevanz als strategisches Dokument. Vielleicht ist es
besser, es zu lesen, es dann beiseite zu legen und sich der Forderung
nach einem Weißbuch deutscher Friedenspolitik zuzuwenden.
Bedrohungsszenarien, wie sie auch dieses Weißbuch hinter jedem Baum und
Strauch hervorzaubert, sind nicht hilfreich, die Probleme der Welt
wirklich anzugehen. Wer noch glaubt, dass mit militärischer Technik ein
friedliches Leben zu sichern ist, stürzt sich und andere in den nächsten
Konflikt. Das Anhäufen von Arsenalen und die modernste Kriegstechnologie
werden die Ursachen der Konflikte, die zu den „Bedrohungen“ führen,
nicht beseitigen – sie sind heute nicht einmal mehr geeignet, sie auf
Abstand zu halten. „Lösungen“ sind nur in einer konsequent zivil
gedachten Bearbeitung zu finden.

Anmerkungen
[1] Vorstellung des Weißbuches durch Verteidigungsministerin von der
Leyen 13.7.2016 (www.bmvg.de). Das „Weißbuch 2016 zur Sicherheitspolitik
und zur Zukunft der Bundeswehr“ findet sich ebenfalls dort – alle
Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe.
[2] Es wurde eine Webseite eingerichtet, auf der die „Bürger“ ihre
Meinung platzieren konnten (von denen bis heute nur ein Teil öffentlich
ist) und Workshops durchgeführt, auf denen „Experten“ ihre Expertise
abladen durften – dokumentiert ist dies unter anderem in einem
Begleitheft zum Weißbuch „Wege zum Weißbuch“.
[3] Gemeinsame Vision, gemeinsames Handeln: Ein stärkeres Europa. Eine
Globale Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen
Union, Brüssel, 28.6.2016. Siehe hierzu auch Jürgen Wagner und Sabine
Lösing, IMI-Analyse 2016/27 (Update: 14.7.2016), EU-Globalstrategie und
deutsch-französische Militarisierungsoffensive (IMI-Online).
[4] Warsaw Summit Communiqué, Issued by the Heads of State and
Government participating in the meeting of the North Atlantic Council in
Warsaw 8-9 July 2016, Press Release (2016) 100.
[5] Siehe weissbuch.org
[6] Defense Advanced Research Projects Agency – Forschungsagentur des
Department of Defense in den Vereinigten Staaten, die mit einem
jährlichen Budget von ca. 3 Mrd. USD dafür sorgt, dass die
militärrelevanten Forschungsfragen auch ihren Weg in die zivilen
Hochschulen finden. Im Umfang ist sie damit der DFG vergleichbar, die
für die Wissenschaftler*innen in Deutschland jährlich ca. 2,8 Mrd €
verausgabt.
[7] Z.B. Die am IFSH angesiedelte Kommission „Europäische Sicherheit und
Bundeswehr“ in ihrem Positionspapier zum Weißbuch (ifsh.de).

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