Dienstag, 18. Oktober 2016

Querulant werden

Podiumsdiskussion: Hartz-IV-Betroffene sollten sich noch stärker gegen Sanktionen wehren

Von Susan Bonath
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Vielleicht nicht so, aber doch mit Nachdruck: Hartz-IV-Betroffene sollten gegen die verfassungswidrigen Sanktionen ­protestieren und ihre Rechte offensiv einfordern, meinten Linke-, Grünen- und SPD-Politiker am Donnerstag in Berlin

Hartz-IV-Sanktionen sind ein teures Erziehungs- und Bestrafungsinstrument: Ganze Teams in Jobcentern kontrollieren und bespitzeln erwerbslose und aufstockende Hartz-IV-Bezieher, um ihnen Fehlverhalten nachzuweisen. Gerichte kommen kaum hinterher, die Auswirkungen – bergeweise Klagen – juristisch zu bearbeiten. Kürzungen gegen Leistungsbeziehende seien kontraproduktiv und existenzgefährdend, darüber waren sich die Teilnehmer einer Podiumdiskussion am Donnerstag abend in Berlin einig. Unter dem Motto »Was Würde wenn – Alternativen zu Jobcenter-Sanktionen« riefen Inge Hannemann, Katja Kipping (Die Linke), Hans-Christian Ströbele (Bündnis 90/Die Grünen) und Helmut Kleebank (SPD) zu »mehr Gegenwehr« auf.
Die Diagnose der Politiker ist so wenig neu wie die regelmäßige Verschärfung der Repressionen gegen sozial Abgehängte durch Parlament und Bundesrat. Kleebank, SPD-Bezirksbürgermeister von Berlin-Spandau, will gern, anders als seine Genossen auf der Regierungsbank als Partner der Union, die Hartz-IV-Strafen abschaffen. In seinem Bezirk werde das Gesetz besonders hart angewandt. Mit rund 46.000 Jobcenter-Klienten seien mehr als ein Viertel der Spandauer von Hartz IV abhängig. Jährlich gingen etwa 6.400 Widersprüche gegen Kürzungen ein, am Ende bekämen 72 Prozent der Kläger recht. Er frage sich: »Wie viele Menschen klagen eigentlich nicht?«
Ströbele, dessen Partei Hartz IV zusammen mit der SPD und den Stimmen von Union und FDP 2005 eingeführt hatte, beklagte das strenge Kontrollsystem. Verfassungswidrige Eingriffe in die Grundrechte Bedürftiger seien das, rügte er. »Da müssen Menschen gegenüber Außendiensten nachweisen, mit wem sie Bett und Tisch teilen, um ein Minimum zum Überleben zu bekommen.« Ströbele versteht auch nicht, wieso man Menschen zu Beschäftigungen zwingen müsse, »obwohl doch der Bedarf an Arbeitskräften gar nicht da ist«.

Linke-Chefin Katja Kipping, sieht die Praxis auch als Disziplinierungsinstrument gegenüber Beschäftigten. »Sie können zwar laut Gesetz unbezahlte Überstunden ablehnen und Arbeitsrechte einfordern, tun es aber nicht, weil sie wissen, was ihnen blühen kann.« Die Auseinandersetzung mit Hartz IV habe ihr zudem »den ollen Marx« näher gebracht: »Er schrieb, das Kapital braucht eine Reservearmee als permanente Bedrohung, um den Leuten vor Augen zu führen: Ihr seid ersetzbar – und das stimmt einfach«.
Inge Hannemann legte Zahlen vor. Noch immer kürzten Jobcenter jedes Jahr rund 415.000 Menschen – rund zehn Prozent aller Hartz-IV-Bezieher – fast eine Million Mal für je drei Monate die Minibezüge. Dabei stünden über drei Millionen Arbeitssuchenden »in guten Phasen 800.000 Stellen« gegenüber. »Und darunter sind viele Praktika, Mini- und Teilzeitjobs«, erklärte sie. Das führe nicht nur zu Auswüchsen wie in Hamburg, wo die Behörden arbeitslose IT-Spezialisten in Computergrundkurse geschickt hätten, sondern auch zu Frust, Angst, Verzweiflung, letztendlich zu Gewalt, Rückzug und sozialem Elend.
Hannemann und ihre Initiative »Sanktionsfrei« wollen nun mit einer Onlineplattform »digitale Gegenwehr« organisieren. Ihr Mitstreiter Michael Bohmeyer stellte die bereits in Betrieb genommene »Testversion« vor. Im ersten Schritt können Sanktionsbescheide hochgeladen werden, führte er aus. »Dagegen wird dann automatisch ein Widerspruch generiert und per Fax ans Jobcenter versandt.« Helfe das nicht, stünden Anwälte für weitere Schritte bereit. Letztlich wolle man Betroffenen auch mit Spendengeldern helfen, über die Runden zu kommen. »Wir wollen eine Art Versicherung gegen staatliche Repressionen werden«, so Bohmeyer. Derzeit, so habe ihm ein Insider verraten, vermerkten Sachbearbeiter auf etwa fünf Prozent der Bewerberprofile ihrer Klienten ein Q für »Querulant«. »Er sagte, wären es zehn Prozent, würde das System zusammenbrechen.« Das wolle sein Team erreichen. »Ein Q sollte die neue Standardnote werden.«

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