19.10.2016
Stellungnahme der Grupo de
Investigación en Arte y Política (Giap)
Vorwärts Genossen !
Warum wir den Vorschlag des Nationalen Indigenen
Kongress (CNI) unterstützen, einen indigenen Regierungsrat
zu bilden, der eine indigene Frau als Kandidatin für die
Präsidentschaftswahlen 2018 bestimmt
Zuallererst möchten wir klarstellen, dass dieser Text eine
Meinung darstellt – geschrieben von Anhängern der Sexta 1
und ohne jegliche Intention, diese breite und heterogene
Konstellation repräsentieren zu wollen. Wir möchten einige
vorläufige Gedanken zu dem überraschenden, spannenden,
ambitionierten und revolutionären Vorschlag des CNI
(konzipiert von der EZLN), an der Präsidentschaftswahl 2018
teilzunehmen, vermitteln. Dieser Vorschlag wird ohne Zweifel
zu Debatten führen, befeuert von beispiellosen Horizonten
des Denkens, der Aktion und der Organisation, die sich
öffnen. In den Worten der Vorschlagenden dreht es sich
darum, "eine Befragung bei unseren Völkern über das
Lancieren einer indigenen Kandidatin als Repräsentantin des
CNI und seinen Zielen und Kämpfen anzustoßen. Dies geschieht
mit dem Ziel, dass unsere Kraft und Organisation mit einem
antikapitalistischen Programm von unten und links wächst,
indem wir einen indigenen Regierungsrat benennen, der sich
an der Präsidentschaftswahl mit einer vorgeschlagenen
Kandidatin beteiligen wird."
In den nächsten zwei Monaten werden die Völker, die dem CNI
angehören, von ihren Repräsentanten über den Vorschlag
informiert und dazu aufgerufen werden, ihn genau zu
analysieren und zu besprechen, um zu einer endgültigen
Entscheidung zu kommen. Die Zustimmung würde zum nächsten
Schritt führen, das heißt zur Benennung eines indigenen
Rates, der aus zwei Vertretern (eine Frau und ein Mann) aus
jedem Volk, jeder Gemeinde und Organisation besteht, und zur
Benennung einer indigenen Frau als
Präsidentschaftskandidatin. Die Wahlkampagne würde am
symbolischen Datum des ersten Januar2
beginnen. Ohne uns jetzt zu sehr über die technischen
Details des Vorschlags auszulassen (für weitere
Informationen achten Sie auf die Kommuniqués des CNI),
bieten wir Ihnen unsere Sicht der Dinge an, mit der
Hoffnung, dass wir, wie es der Sup 3
sagte, die Idee der Subversion ernst nehmen und ausgehend
von unserem eigenen Herzen alles auf den Kopf stellen.
1. Von der Skepsis zur Überzeugung übergehen, dass das der richtige Weg ist – vielleicht der einzig vorhandene
Es ist so, Genossen und Genossinnen, dass eines der
Gründungsprinzipien der Sechsten Deklaration aus dem
Lakandonischen Urwald besagt, dass weder eine
emanzipatorische Aktion noch ein Zeichen von Würde von oben
kommen kann, wo die Mächtigen Verachtung, Vertreibung,
Ausbeutung und Repression organisieren. Die Macht des
Staates ist korrupt und korrumpierend. In der jetzigen
Konjunktur hat sich der Staat auf einen Apparat zur
Konsolidierung der Hegemonie und Hyper-Mächtigkeit des
Neoliberalismus, also des Kapitalismus unserer Zeit,
reduziert. Damit wird mit neuen Strategien das gleiche Ziel
wie immer verfolgt: die uneingeschränkte Akkumulation
mittels Vertreibung, Ausbeutung und Spekulation. Die
Regierungen der Staaten haben sich in das verwandelt, was
Marx vor mehr als einem Jahrhundert erkannt hatte: in eine
Junta, die die gemeinen Geschäfte der bürgerlichen Klasse
verwaltet. Sie sind Delegierte der Macht des Kapitals. Aus
Sicht der Sexta hält uns diese Situation dazu an,
Organisationsformen und ein politisches Denken fernab der
Macht von Staates/Kapital zu schaffen, und daher ebenso
fernab von Parteien und traditionellen politischen
Organisationen, die irreparabel vom System kooptiert worden
sind – das ist das, was wir in unseren Räumen des Kampfes
als Autonomie definieren.
Diese Zersetzung der Regierungen und der konventionellen
Formen der Politik ist eine der Hauptursachen unseres
Leidens; sie führt dazu, dass wir die Attacke des
Kapitalismus derart grausam und unaufhaltsam erleben und
wahrnehmen – weswegen wir ihn uns wie eine Hydra mit tausend
Köpfen vorstellen, wo du einen Kopf abhackst und ein neuer
wieder auftaucht. Allerdings ist die Verkommenheit des
politischen Systems auch seine Schwäche, wie uns die
Kommandantur der EZLN in der gestrigen Versammlung am 13.
Oktober aufzeigte. Die Existenz eines demokratischen Regimes
ist nichts als Fiktion, Spektakel; ein Betrug, den die
Regierungen mit zunehmender Schwierigkeit nähren, angesichts
des Panoramas eines internen Krieges und einem sozialen
Niedergang, den die mexikanische Nation seit vielen Jahren
erlebt und der immer mehr Gesellschaftsschichten betrifft.
Wenn das politische System zur Schwachstelle der Macht
geworden ist, dann müssen wir genau dort angreifen, und um
dies zu tun muss man in Kontakt mit ihm treten und seinen
Raum, sei es auch nur zeitweise, besetzen. Es handelt sich
um eine strategische Frage, die uns zum zweiten Punkt führt.2. Wir müssen die Theorie mit der Strategie aufmischen
Wir sind eine Anti-Parteien Bewegung mit einer Vorstellung
und einem Verständnis von Macht, das der Allianz
Staat-Kapital diametral (wir würden ontologisch sagen)
gegenüber steht. Nichtsdestotrotz basiert die Politik der
Emanzipation aber auf dem Konflikt. Es gibt keine Befreiung
ohne Konflikt. Nennen wir es "Dialektik", "Antagonismus",
"Rebellion", "Widerstand" etc., die Konfrontation begleitet
jegliches politische Projekt, das sich als emanzipatorisch
definiert. Wir verteidigen uns, weil der Feind sich auf
unserem Territorium befindet – der Kapitalismus kolonisiert
nicht nur unsere Räume, sondern jeden Aspekt bis hin zu den
intimsten und subjektivsten unseres Lebens – aber im Moment
des Angriffs sind wir es, die in das feindliche Territorium
eindringen. In diesem Prozess vermischen wir uns mit ihm,
wir eignen uns seine Waffen, seine Logiken und Dynamiken an,
um sie gegen ihn selbst zu drehen. Das ist es, was die
Zapatistas am 1. Januar 1994 taten, als sie sich als Armee
konstituieren und sich das Terrain des Krieges, einer Logik
der Zerstörung aneignen mussten, um den Formen des
Vergessens, der Erniedrigung und Ausrottung
entgegenzutreten, die die ursprünglichen Völker von Chiapas
erlitten. Heute, und in einem politischen und sozialen
Kontext der in vielen Aspekten dem von 1994 ähnelt, wird der
Angriff im Feld der Regierungspolitik erfolgen – mit dem
Ziel, die Politik zu revolutionieren – "man muss da
zuschlagen, wo es dem System am meisten wehtut", sagte
Galeano. Selbstverständlich beinhaltet die Strategie nicht,
die Ideologie des System für gültig zu erklären; genauso
wenig bedeutet sie eine Ablehnung der Ideen, die in der
Sexta aufgeworfen wurden. Ziel ist es, einen breiten
politischen Prozess hervorzubringen, der mit dem System des
Todes, das uns derzeit regiert, Schluss macht.
3. Nochmals: es geht nicht um die Ergreifung der Macht, sondern um ihre Transformation
Die Genossen vom CNI und der EZLN haben sehr darauf
beharrt, dass dies kein Wahl- oder typischer
Politikervorschlag ist. Man beansprucht für sich weder das
Wahlsystem, noch denkt man daran, eine neue politische
Partei zu gründen. Klar ist auch, dass die EZLN nicht
beabsichtigt, das zu verlieren, was sie seit ihrer Gründung
aufgebaut hat. Dies ist ein Vorschlag, die Völker des CNI
neu zu organisieren, neu zusammenzubringen und zu stärken,
um ihre Präsenz auf nationaler Ebene zu zeigen und um die
Formen der Selbstregierung, die die Völker mit den Jahren
perfektioniert haben, einem breiteren Kontext
gegenüberzustellen. "Es ist Zeit, dass wir uns wagen, dass
wir vorwärtskommen", bekräftigen die Delegierten. Das
Empfinden, das die Vorschlagenden teilen, ist, dass diese
neue politische Strategie einen Impuls, eine Evolution der
nationalen politischen Situation hervorrufen kann, die einen
Ausweg aus der aktuellen tragischen Situation im Land
ermöglicht. Der Prozess der Bildung eines indigenen
Regierungsrates könnte neue Formen der Interaktion zwischen
den Völkern schaffen und eine erste Vorstellung einer neuen
politischen Subjektivität geben.
4. Wir müssen zum Gegenangriff übergehen
Seit langer Zeit leisten die ursprünglichen Völker Mexikos
Widerstand und versuchen, ihre eigenen Organisationsformen
und Lebensweisen zu verteidigen. Im Laufe der Jahre hat der
CNI als Plattform fungiert, auf der sich Völker, Gemeinden
und Organisationen gegenseitig spiegeln und die gemeinsame
Natur ihrer Leiden anerkennen konnten. Der Kongress hat
einen wichtigen Raum des Sich-Mitteilens und des Anprangerns
geschaffen, aber dies hat zu keinem strukturellen Wandel
geführt. Laut der Analyse der Vortragenden hat die quasi
Abwesenheit wirklicher Fortschritte zu Stagnation und
Zermürbung innerhalb der Organisation geführt. "Es ist jetzt
Zeit, nicht an die Schmerzen zu denken, uns nicht nur zu
verteidigen, sondern zum Gegenangriff überzugehen",
bekräftigte Subcomandante Galeano vor 360 Delegierten, 80
Gästen und mehr als 400 Anhängern der Sexta. Die
"schlafende" Kraft, die den CNI zurückhält ist enorm und es
ist wichtig sie proaktiv zu organisieren. "Die Kraft, die
erwachen wird, ist so groß, wir wir es uns gar nicht
vorstellen können", "was wir vorfinden werden, wird noch
mehr hergeben", betonte der Sup. In dieser Hinsicht fordert
der Vorschlag die Opferrolle und Passivität heraus: "Es ist
die Macht von unten, die uns lebendig gehalten hat und
ihretwegen bedeutet das Gedenken an Widerstand und Rebellion
auch, unsere Entscheidung zu bestätigen, weiterhin lebendig
die Hoffnung auf eine mögliche Zukunft aufzubauen, einzig
und allein auf den Ruinen des Kapitalismus", heißt es in dem
Kommuniqué des CNI.
5. Der Sturm wird heftiger werden, wir müssen uns vorbereiten
Ohne Zweifel wird ein Prozess dieser Art eine gewaltsame
Reaktion der Kräfte hervorrufen, die derzeit das Leben der
Mexikaner regieren. Wir sprechen nicht nur von der
Regierung, sondern von einer Überlappung von staatlichen
Einrichtungen, organisiertem Verbrechen und privaten
Organisationen. Die Synergie dieser Kräfte ist äußerst
fließend und tendiert dazu, sich in gemischten Machtgruppen
zu kristallisieren, die auf lokaler Ebene mit einem hohen
Grad an Unabhängigkeit und Straffreiheit agieren. Diese
Allianzen der Macht haben unterschiedliche Größen und neigen
dazu, sich rings um ökonomische Interessen zu gruppieren,
die in bestimmten Gebieten zur Verfügung stehen. Zum
Beispiel die Energiereform, die ungefähr ein Viertel der
nationalen Fläche an die Bergbauindustrie vergeben hat, hat
eine Unzahl solcher Interessensorte geschaffen. Viele dieser
Ländereien werden derzeit von indigenen Gemeinschaften
kontrolliert oder sind Gemeindeland und der
Vertreibungsprozess hat zu einer Welle der Gewalt gegen sie
geführt. Die Mobilisierung dieser Gemeinden hin zu ihrer
kollektiven und emanzipatorischen Beteiligung am Wahlprozess
2018 wird das Repressionsniveau durch militärische und
paramilitärische Gruppen sogar noch verstärken. Viele
Delegierte des CNI haben Ihre Besorgnis diesbezüglich
ausgesprochen, man befürchtet, dass es bereits ab dem
Befragungsprozess zu Gewalttätigkeiten kommen könnte. Sie
fordern deshalb die Ausarbeitung von
Sicherheitsvorkehrungen. Neben der physischen Gewalt ist
leicht vorhersehbar, dass es eine absolut feindliche
Medienkampagne gegen dieses politische Projekt geben wird:
die Organisatoren werden beschuldigt werden, unpassend zu
sein, und ihnen werden alle möglichen Hindernisse in den Weg
gelegt werden, damit die Kampagne scheitert, einschließlich
vonseiten der Linken und der Intellektuellen.
Auch wenn die Kommandantur der EZLN bekräftigt hat: "Wir
verlieren mit euch oder wir gewinnen mit euch", denken wir,
dass diese Situation trotz der Hindernisse und Gefahren eine
Win-win Situation ist. Ob man bei den Wahlen gewinnt oder
nicht, es geht vor allem um den durch die indigenen Völker
Mexikos in Gang gesetzten politischen Prozess, der
Auswirkungen auf die gesamte Zivilgesellschaft haben und
einen radikalen Wandel begünstigen oder dafür zumindest die
Basis schaffen wird.
15. Oktober 2016
- 1. Eine lose mexikoweite und internationale Struktur, die sich um die Sechste Deklaration aus dem Lakandonischen Urwald mobilisiert und organisiert, die im Juni 2005 von der EZLN veröffentlicht wurde
- 2. Am 1. Januar 1994 führte die EZLN ihren bewaffneten Aufstand im Bundesstaat von Chiapas durch
- 3. Kollegiale Abkürzung für Subcomandante Insurgente; gemeinhin wird sich damit auf Subcomandante Marcos bzw. Galeano bezogen
Links:
[1] https://amerika21.de/autor/grupo-de-investigacion-en-arte-y-politica-giap
[2] http://radiozapatista.org/?p=18981
[3] https://elblogdegiap.wordpress.com/2016/10/15/adelante-companeros/
[4] https://flattr.com/submit/auto?user_id=amerika21&url=https%3A%2F%2Famerika21.de%2Fdokument%2F162474%2Fcongreso-indigena-mexiko&title=Unterst%C3%BCtzung%20f%C3%BCr%20Vorschlag%20der%20Zapatisten%2C%20an%20Pr%C3%A4sidentschaftswahl%20in%20Mexiko%20teilzunehmen&description=Vorw%C3%A4rts%20Genossen%20%21%0AWarum%20wir%20den%20Vorschlag%20des%20Nationalen%20Indigenen%20Kongress%20%28CNI%29%20unterst%C3%BCtzen%2C%20einen%20indigenen%20Regierungsrat%20zu%20bilden%2C%20der%20eine%20indigene%20Frau%20als%20Kandidatin%20f%C3%BCr%20die%20Pr%C3%A4sidentschaftswahlen%202018%20bestimmt&language=de_DE&category=text
[1] https://amerika21.de/autor/grupo-de-investigacion-en-arte-y-politica-giap
[2] http://radiozapatista.org/?p=18981
[3] https://elblogdegiap.wordpress.com/2016/10/15/adelante-companeros/
[4] https://flattr.com/submit/auto?user_id=amerika21&url=https%3A%2F%2Famerika21.de%2Fdokument%2F162474%2Fcongreso-indigena-mexiko&title=Unterst%C3%BCtzung%20f%C3%BCr%20Vorschlag%20der%20Zapatisten%2C%20an%20Pr%C3%A4sidentschaftswahl%20in%20Mexiko%20teilzunehmen&description=Vorw%C3%A4rts%20Genossen%20%21%0AWarum%20wir%20den%20Vorschlag%20des%20Nationalen%20Indigenen%20Kongress%20%28CNI%29%20unterst%C3%BCtzen%2C%20einen%20indigenen%20Regierungsrat%20zu%20bilden%2C%20der%20eine%20indigene%20Frau%20als%20Kandidatin%20f%C3%BCr%20die%20Pr%C3%A4sidentschaftswahlen%202018%20bestimmt&language=de_DE&category=text
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