Samstag, 16. September 2017

Über die Produktionsmethode von Aphorismen (Matthias Biskupek)


Früher wusste jeder Zeitungsredakteur um Schnipsel, also jene kleinen Literaturteile, die an jeder noch leeren Stelle eine Seite füllen konnten. Damit das Ganze einen ernsthaften Anstrich bekam, schrieb man »Aphorismen« darüber, und schon waren es »geistreiche Sinnsprüche«, manchmal von braver Langweiligkeit. Nun ist langweilig noch nicht ernsthaft. Doch man konnte sich immer auf Georg Christoph Lichtenberg berufen, den Professor aus Göttingen mit den dünnen Ehefrauen, weil Schlankheit wegen des bessern Anschlusses im Beischlaf und der Mannigfaltigkeit der Bewegung gefällt. Selbstverständlich kann man auch jederzeit Stanisław Jerzy Lec zitieren, der einen wirklichen Aphorismus schöpfte mit seiner Betrachtung über den Sarg, der auf der Seite des Verbrauchers schmucklos sei.

Heute, wo man aufgrund elektronischer Literaturverbreitung das Seitenfüllsel eigentlich nicht mehr nötig hätte, machen dennoch immer mehr der Literatur frönende Bürger sich zu Produzenten von Aphorismen. Man muss dieselben, also die geistreichen Sinnsprüche, dann nur in entsprechende Literaturportale hineinpraktizieren, denn wenn einer nichts gelernt hat, dann organisiert er. Wenn einer aber gar nichts gelernt und nichts zu tun hat, dann macht er Propaganda. Zum Beispiel für den Aphorismus, der gerade im Zeitalter der »Hundertvierzig Zeichen« die Menschen aufklären kann: über die Originalität des Twittertums im Zeitalter des abnehmenden Verstandes. Dann muss man nur noch die anderen Hundertvierzig-Zeichen-Verfasser in ihren jeweiligen Informationsblasen loben, denn wer lobt, wird selten nach seiner Aktivlegitimation gefragt.

Schnipsel im herkömmlichen Sinne werden selbstverständlich noch in herkömmlichen Medien benötigt, eines davon heißt Ossietzky, weshalb sich hier auch immer wieder Aphorismen finden. Sie werden durchaus gern genommen, und wenn sie mal nicht genommen werden, kann der Verfasser die Redaktion halt gern haben.

Wer aber jeden Tag nur ganze drei Aphorismen anfertigt von, sagen wir mal, je 140 Zeichen, hat in einem Jahr schon ein Büchlein von knapp hundert Seiten geschrieben, könnte also alle drei Jahre einen ordentliches Band mit Sinnsprüchen ausliefern, die dann »Die Wahrheit lügt in der Mitte« oder »Der größte Feind der Freiheit ist die Feigheit« oder auch ganz einfach »Zinnsprüche« heißen, wobei in letzterem dann originelle Zeilen wie »Mit allen Zinnen leben« oder »Mein Leben zwischen Zinne und Zorn« stehen.

Wer in solchen Büchern liest, sollte aber immer bedenken: Erwarte nichts. Heute: das ist dein Leben. Obwohl man bei der Überschrift »Aphorismen« dann doch etwas erwartet: wenigstens ein kleines Aufmerken oder vielleicht auch Humor. Humor ruht aber oft in der Veranlagung von Menschen, die kalt bleiben, wo die Masse tobt, und die dort erregt sind, wo die meisten nichts dabei finden, und solche Leute soll es auch unter traditionellen, also männlichen Medienkonsumenten kaum noch geben. Die dann immer eitel darauf sind, nicht eitel zu sein. Sie ruhen nicht eher und tragen ihr Herz in der Hand, bis Sie ihm aus der Hand frisst. Dabei müsste im Zeitalter der wirklichen Gleichberechtigung dieselbe nicht immer nur weiblich daherkommen, sondern der Gleichberechtigung heißen, was grammatisch aber nur um der Gleichberechtigung willen möglich ist. Doch alle Diskussionen und Arbeitsgruppen von der kommunalen Ebene bis in den Bundestag haben bislang nicht dazu geführt, aus der Gleichberechtigung eine Gleichberichtigung zu machen.

Wir könnten an dieser Stelle den Text bis auf höchste Zinnen, also über alle Sinne treiben, wollen aber doch nun endlich die Produktionsmethode von Aphorismen verraten. Man suche einen Text wie diesen und entnehme daraus folgende Aphorismen:
1.       Auch Schnipsel können eine Seite füllen.
2.       Langweilig ist noch nicht ernsthaft.
3.       Auch geistreiche Sprüche benötigen ein Portal.
4.       Wenn einer nichts gelernt hat, dann organisiert er. Wenn einer aber gar nichts gelernt und nichts zu tun hat, dann macht er Propaganda.
5.       Twittern ist nur für Menschen mit abnehmendem Verstand.
6.       Wer lobt, wird selten nach seiner Aktivlegitimation gefragt.
7.       Wer nicht gern nimmt, kann uns gern haben.
8.       Erwarte nichts. Heute: das ist dein Leben.
9.       Humor ruht oft in der Veranlagung von Menschen, die kalt bleiben, wo die Masse tobt, und die dort erregt sind, wo die meisten nichts dabei finden,
10.     Er war eitel darauf, nicht eitel zu sein.
11.     Er trug sein Herz auf der Hand und ruhte nicht eher, bis sie ihm aus der Hand fraß.
12.     Wann macht man aus der Gleichberechtigung endlich eine Gleichberichtigung?

Sie sehen, wir haben im Nu ein Dutzend Aphorismen bei der Hand. Gewiss, die Nummern 2, 4, 6, 8, 9, 10 und 11 stammen von Kurt Tucholsky und wurden als Schnipsel in der Weltbühne 1931 und 1932 gedruckt. Der Aphorismenband »Die Wahrheit lügt in der Mitte« wurde von Andre Brie im Jahre 1982 veröffentlicht und »Der größte Feind der Freiheit ist die Feigheit« stammt von Harald Schmid, dem allerdings wahrlich das letzte t fehlt. Alles andere aber stammt vom obenstehenden Verfasser (»Manch Verfasser glaubt sich erst ganz oben, wenn er ganz unten angekommen ist«), der sich hiermit als Feind allen Schnipseltums und aller Aphoristerei bekennt.

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